31. Juli 1986 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | 40 qm Deutschland

Zwischen zwei Kulturen

40 QM DEUTSCHLAND - der Debütfilm des Türken Tevfik Baser

Dursun sitzt auf dem Bett und schimpft. Er lebt unter Barbaren. Die Männer tragen keine Kopfbedeckung, die Frauen liegen barbusig in den Parks, und die Fürsorge kümmert sich um vergewaltigte Ehefrauen und bringt mißhandelte Kinder in Heime. Nichts ist den Deutschen heilig; der Glaube und die Moral nicht, Familie und Tradition sowieso nicht. Besonders die Fürsorge regt ihn auf. Die fragt in seiner Fabrik die Leute aus, mischt sich in Privatangelegenheiten, stellt die Rolle des Mannes als unbedingter Herr und Hüter der Familie in Frage. Was wir als alltäglich oder fortschrittlich bezeichnen würden, hält Dursun mit der gleichen Selbstverständlichkeit für verkommen und verdorben. Seine Tirade ist die zentrale Szene des Films, weil sie an Hand ganz banaler Dinge sehr konkret veranschaulicht was das heißt: andere Länder – andere Sitten; und weil damit wir Zuschauer gründlich vor den Kopf gestoßen werden.

Tevfik Baser weiß, wovon der spricht. 1951 in der Türkei geboren, ging er 1973 nach London, um sich mit Photographie zu befassen, und lebt nun seit sechs Jahren im Hamburg. Die ersten beiden Jahre waren eine Qual für ihn, weil er zwar ausgehen, aber mit niemandem reden konnte. Er war gefangen inseiner Sprache. Vielleicht ist das der Grund, warum sie in seinem Film keine so große Rolle spielt. Die Bilder, die er für seine Geschichte gefunden hat sind beredt genug. Es ist eine Einfachheit und Klarheit in ihnen, die für einen Erstling erstaunlich ist. Sie beweisen auch, daß Baser es sich nicht leicht gemacht hat.

Dass 40 QM DEUTSCHLAND anfängt wie DER KUSS DER SPINNENFRAU ist kein Zufall. Ursprünglich wollte Baser einen Film über einen Deutschen und einen Türken in einer Gefängniszelle drehen. Als er jedoch von Hector Babencos Projekt erfuhr, hat er sein Drehbuch weggeworfen. Jetzt sehen wir zu Beginn eine lange Fahrt durch eine Wohnung, die offensichtlich ein Junggeselle bewohnt. Und wir hören das unablässige Piepsen eines Weckers. Eine Irritation, die etwas in Gang setzt. So wird der Zuschauer eingestimmt auf einen Film, der mit ihm rechnet, der auf seine Neugier, Ahnungen und Vermutungen angewiesen ist.

Dursun (Yaman Okay), türkischer Gastarbeiter in Hamburg, war in der Heimat und hat eine Frau mitgebracht. Für ihn war das in erster Linie eine Investition in Nachwuchs und Bequemlichkeit. Sie hält die Wohnung sauber, steht ihm abends nach der Arbeit im Bett zur Verfügung und soll für einen Stammhalter sorgen. Dafür hat er 500 000 türkische Lira gezahlt. Tuma (Özay Fecht) hat dabei keiner gefragt. Doch Gehorsam und Respekt gegenüber dem Manne sind Tradition, zumal in der türkischen Provinz. Deswegen hat auch das Verhalten der Frau nichts mit Schwäche, das des Mannes nichts mit Böswilligkeit zu tun. Nicht einmal dann, wenn Dursun Turna in der Wohnung einsperrt, ihr jeglichen Ausgang verbietet. Er hält Deutschland eben für ein gefährliches Pflaster, auf dem seine Ehe – also auch seine Rolle als Patriarch – durch die „offenkundige Unmoral der hiesigen Bewohner“ ständig bedroht wäre. Die vierzig Quadratmeter der Wohnung hegen darum eigentlich nicht in Deutschland, sondern bilden eine Schleusenkammer zwischen zwei Kulturen, zwei Welten. Die Luft dort ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Tuma führt ein Leben in der Schwebe, in einem Niemandsland.

Der Film spielt fast ausschließlich in der Wohnung. Die Kamera begleitet Tuma durch ihre Tage der Monotonie, zeigt ihr langsames Abgleiten in Verwirrung und Depression. Das geschieht so unmerklich wie die Zeit verstreicht. Weil die Szenen lose in Ab- und Aufblende aneinanderhangen, verliert der Zuschauer wie Tuma die Orientierung, gerät bald selbst in einen Schwebezustand. Richtig bewußt wird das, wenn eines Nachts vor dem Fenster die Raketen krachen. Tuma hält das Silvesterfeuerwerk zunächst für einen Bombenangriff. Mit solchen Szenen vermeidet Baser, daß man mch allzu sehr einrichtet in diesem Leben; er verschafft einem so die immer wieder nötige Distanz.

Turnas einzige Verbindung zur Außenwelt ist ihr Fenster zum Hof. Sie sieht ballspielende Jungs, den Balkon einer Wohnung von Punkern, eine Nutte auf dem Straßenstrich und ein Mädchen, das ihr aus einem gegenüberliegenden Fenster mit einer Puppe zuwinkt. Dass die Mutter ihr Kind wegzieht und die Vorhänge zumacht wäre nicht nötig gewesen. Denn diese deutliche Geste wirkt viel schwächer als alle Szenen, die ihr Geheimnis und auch ihren Zauber wahren, weil ihre Bedeutung zumindest für deutsche Zuschauer unausgesprochen bleibt. Wenn etwa Turna sich die Zöpfe abschneidet oder sich bunte Tücher umbindet; oder wenn ein bärtiger Alter in die Wohnung kommt und sie mit magischen Worten bespricht und bemalt. Dann ist uns der Sinn dieser Rituale zwar unbekannt, aber weil wir uns anstrengen müssen, ihre Bedeutung zu erahnen, wirken sie viel intensiver. Da wird dann auch ein bißchen von dem klar, was Menschen an ihre Kultur bindet, und warum Dursun mit diesem Brustton der Überzeugung auf die Deutschen schimpft. Da liegen Qualitäten, die auch nach
dem Kino fortwirken.

40 QM DEUTSCHLAND berührt und bewegt weil er zeigen und nicht beweisen, vermitteln und nicht überreden will. Baser hat sich von der Enge der Wohnung nicht zu Effekten oder Experimenten verführen lassen. Die Dinge immer in Bezug zu den Menschen zu stellen, ist seine Form von Menschlichkeit. Vierzig Quadratmeter sind nicht viel, aber es gibt dort eine Menge zu sehen.

(In München im Neuen Arri.)

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


4 − zwei =