28. Januar 1999 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Fette Welt

Kühler Blick, schweres Herz

Auch München kann sehr kalt sein: FETTE WELT von Jan Schütte

Manche Filme entfalten erst hinterher ihre volle Kraft. Irgendetwas scheint den Film, solange er läuft, zu bremsen. Über den Bildern liegt ein Schleier, die Figuren wirken gehemmt, die Geschichte kommt nicht vom Fleck. Man blickt in eine Leere, während das Eigentliche an den Rändern bleibt. Die Emotionen verstecken sich dort im Schatten und scheinen sich nicht recht hervorwagen zu wollen. Spröde wirkt FETTE WELT auf den ersten Blick, wie mancher Film von Jan Schütte, aber hinterrücks packt er einen dann doch. Film und Regisseur machen es sich und uns nicht leicht – aber wo steht geschrieben, daß die wahren Belohnungen im Kino leicht zu haben sind?

Vielleicht liegt es ja nur an den Widersprüchen, die mit diesem Projekt einhergehen: eine Literaturverfilmung, die auf die Vorlage pfeift; ein Münchenfilm, der dieser Stadt ins Gesicht lacht; und ein Realismus, der sich gerne poetisch gibt. Letzteres hat bei den LIEBENDEN VON PONT-NEUF funktioniert – warum nicht auch hier? Der Versuch allein, dem allgemeinen Wohlgefühlsgedudel etwas entgegenzusetzen, ist schließlich auch etwas wert.

Es geht um einen Penner mit dem schönen Namen Hagen Trinker, der ein Mädchen kennenlernt, das seiner Verzweiflung eine andere Richtung gibt. Anfangs leistet er der etwas kapriziösen, ausgebüchsten Schülerin tapfer Widerstand, dann läßt er sich doch einfangen, und schließlich zahlt er den Preis, den früher oder später alle zahlen müssen, die sich von der Liebe verführen lassen. Das alles im Pennermilieu, zwischen Hauptbahnhof und Isarbrücken, in einem München also, das vor dem in tausend Fernsehserien und zahllosen Komödien zementierten Bild dieser Stadt ausspuckt. Und manchmal bekommt dieses Dorf, das sich als Stadt gefällt, tatsächlich etwas Großstädtisches und in den besten Momenten sogar etwas Märchenhaftes: wenn über den düsteren Isarauen plötzlich die Basilika St. Maximilian aufragt oder wenn der Bach im Englischen Garten auf einmal zum Totenfluß wird.

Man sieht, es gibt in FETTE WELT berückende Momente, aber auch Phasen, wo die Geschichte nicht recht weiß, wo sie hin will. Das macht insofern nichts, als Jürgen Vogel den Helden spielt und er zusammenhält, was sonst auseinanderdriften würde. Es bringt in die Rolle des Penners etwas, was dem deutschen Kino sonst abgeht und was das Gegenteil von Kunstfertigkeit ist. Er vermeidet jedes Gefälle in dieser Geschichte und sucht nicht nach jener Pennerhaftigkeit, an der Schauspieler sonst ihr Mütchen kühlen. Er ist einfach er – eine Klasse für sich.

Letztlich ist der Film nicht mehr als eine Liebesgeschichte, die sich doch nicht traut, ihr Milieu zu verlassen, ihre Grenzen auf eine Weise zu sprengen, wie das Léos Carax in PONT-NEUF getan hat. Hagen bleibt verstockt – und sie ist doch nur ein kleines Mädchen, das von zuhause ausgerissen ist und laut pfeifend durch den Wald marschiert. Ihre Liebe gebärdet sich unbedingt – aber am Ende holen sie die Bedingungen doch noch ein.

Dies alles ist mitunter eindrucksvoll in Szene gesetzt, aber rührt nicht so ans Herz, wie es sollte oder wollte – bis der Abspann kommt. Das Bild wird dunkel, die Titel laufen, und der unlängst verstorbene Rio Reiser setzt ein mit seiner Ballade „Stiller Raum”. Und plötzlich möchte man heulen, so schön ist das. Irgendwie gehört das Lied wie selten etwas zum Film dazu, zu der Geschichte, die er erzählt, und zu all den Dingen, die er nicht erzählt.

Und Rio singt: „Stiller Raum, stille Nacht. Alles schläft, ich bin wach. Ich weiß, wo du bist, und du weißt, daß ich‘s weiß. Ich wollt es nicht anders, und ich kannte den Preis. Drei Worte zu wenig und ein Wort zu viel. Ein giftiger Pfeil traf mitten ins Ziel. Ein kalter Blick – und wir wurden zu Stein. Jetzt bin ich frei und wieder allein. Stiller Raum…
Ich hab dich gerufen, hast du mich gehört? Ist noch Glut in der Asche? Vielleicht sogar noch mehr? Die Welt dreht sich weiter, für dich und für mich. Wo heute nacht Schatten sind, war gestern noch Licht. Stiller Raum…”

Es ist, als ob „Stiller Raum” all das liefert, was der Film verweigert, als ob der Song zusammenfügt, was verstreut lag, als ob er einlöst, was der Film versprochen hat. Und plötzlich packt es einen: Ein kalter Blick – und wir wurden zu Stein.

FETTE WELT, BRD 1999 – Regie: Jan Schütte. Buch: Schütte und Klaus Richter nach dem gleichnamigen Roman von Helmut Krausser. Kamera: Thomas Plenert. Ausstattung: Katharina Wöppermann. Darsteller: Jürgen Vogel, Julia Filimonov, Stefan Dietrich, Sybille Canonica, Lars Rudolph, Jürgen Hentsch. Verleih: Polygram, 89 Minuten.

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