13. Mai 2011 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Würdigungen | Nachruf: Liebling, ich bin im Kino

Liebling, ich bin im Kino

Er hat sich vom Film immer berühren und niemals täuschen lassen: Der am Donnerstag im Alter von achtundvierzig Jahren verstorbene F.A.Z.-Filmkritiker Michael Althen wusste, dass ein Film nichts ist, wenn er uns nicht auffordert unser Leben zu überprüfen.

Autor: Claudius Seidl

Er hat den Himmel immer Himmel genannt, obwohl er, glaube ich, nicht besonders gläubig war. Es war der Ort, an dem er Robert Mitchum und James Stewart vermutete, um jetzt nur die zwei Wichtigsten zu nennen – er wusste, dass es diesen Ort geben musste, er hatte die beiden da ja selbst hingestellt, in seinen Nachrufen, die jeden Leser zu Tränen rühren konnten. Und zugleich waren diese Texte immer auch ein Trost, weil Michael Althen wie niemand sonst die Kunst beherrschte, diese Menschen, die doch eben gestorben waren, so genau zu beschreiben und so sehr zu lieben, dass sie noch einmal so lebendig wurden, wie sie es dann bleiben sollten in unserer Erinnerung.

Ach, Michael Althen ist gestorben, viel zu früh; es ist falsch und ungerecht, er war der größte aller Filmkritiker, und dass uns seine Texte bleiben, ist nur ein schwacher Trost. Schon weil er, bis zuletzt, immer genug Jugend im Kopf hatte, um so zu leben, zu denken, auf die Welt und auf die Filme zu schauen, als ob die besten Texte erst noch geschrieben werden könnten.

Wir waren Freunde, die allerbesten sogar, was ja einerseits nicht unbedingt in die Zeitung gehört. Und andererseits eben doch, weil eben beides, das Kinogehen, Filmegucken und das Schreiben, wenn man es so ernst und leidenschaftlich tut, wie Michael Althen das immer getan hat, zugleich das Alleröffentlichste und das Allerintimste ist. Manchmal ahnte man im Dunkel des Kinos, dass er kurz eingeschlafen war, und wenn die Vorstellung vorüber war, lachte er und meinte, im Kino einzuschlafen heiße, dem Film zu vertrauen. Manchmal, wenn es ihn richtig erwischt hatte und wenn er, der doch eigentlich immer den richtigen Ton traf, einen Zeugen oder einen Bürgen brauchte für so ein starkes Gefühl, manchmal zitierte er dann Herbert Achternbusch, der über Otto Premingers „River of no Return“ einmal geschrieben hat, er habe mitten in der Vorführung den Sitz gewechselt, „damit man den Blutfleck unterm Stuhl nicht auf mich bezog. So sehr hatte mein Herz geblutet.“

Ich weiß nicht mehr, wie man eine Filmkritik schreibt, wie geht das denn? Mit dieser Frage stand ich immer wieder in seinem Zimmer – und wenn er dann antwortete, dass er es selbst so gar nicht wisse, dann war das nicht kokett und erst recht nicht ironisch gesprochen: Es war der Ausdruck dessen, wie schwer er sich das machte, was sich doch so oft so leicht las. Natürlich verfügte Michael Althen, wenn es um Filme ging (und nicht nur da), über eine größere Kennerschaft und einen sichereren Geschmack als alle anderen. Aber wenn es um das Schreiben ging, war eben klar, dass mit Blaupausen und Satzbausteinen keine Wahrheit zu erringen war.

Es half nichts, sich die eigenen Gefühle, bevor sie sich überhaupt entfalten konnten, mit Ideologiekritik vom Leib zu halten – die Momente der Wahrheit, wie Michael Althen sie verstand, ereignen sich zum Beispiel in den Western von John Ford, in den Melodramen; oder wenn James Stewart in einer Komödie von Frank Capra den naiven Helden spielte. Es sind die Momente, in denen die ungeübten Kinogänger zu kichern oder zu gackern anfangen, weil sie sich fürchten vor der Wucht der Gefühle, die sie überwältigen könnte. Michael Althen hat sich immer berühren und niemals täuschen lassen vom Kino, der großen Emotionsmaschine, und dass die Texte, die auf diese Weise geschrieben wurden, weder theoriefern noch unpolitisch waren, das hat wundersamerweise sogar die Ideologiekritiker des Kinos überzeugt, die, als er anfing, noch den Ton angaben.

Es war die Praxis zu Richard Rortys theoretisch formulierter Forderung, dass es gefälligst die Werke sein müssten, die dem Kritiker die Kriterien ihrer Bewertung verraten. Es gab keinen anderen Kritiker, der, obwohl oder gerade weil er nicht für Eingeweihte schrieb, von denen, die er kritisierte, von den Filmern, den Autoren und den Schauspielern und Schauspielerinnen, so geliebt, verehrt und so genau gelesen wurde.
Seine aus dem echten Leben ins Schreiben mitgebrachte Zärtlichkeit

Er war neunzehn, als er seine ersten Filmkritiken schrieb, für kleine Münchner Blätter, die man eben wegen dieser Texte nicht vergessen hat – und als wir uns trafen, war er Anfang zwanzig, benahm sich sehr erwachsen und sah aus, als ob der junge Robert Mitchum in einem bourgeoisen Drama aus Frankreich die Hauptrolle spielte: sehr gut und männlich, sehr eindrucksvoll und so ungeheuer liebenswert mit seinem münchnerischen Bariton, dass es gar kein anderes Etappenziel geben konnte, als die Freundschaft dieses Mannes erringen zu wollen.

So ein Auftritt war natürlich Stilisierung, der eigenen Jugend und dem Stil der Achtziger geschuldet – aber mehr war es eben auch. Ein Film, ein Buch, eine Fernsehserie ist nichts, wenn darin nicht auch die Forderung steckt, das eigene Leben zu überprüfen. Und ein Kritiker ist nichts, wenn er das, was er im Leben ist, an der Garderobe abgibt, bevor er mit dem Schauen und dem Schreiben beginnt. Am Morgen nach der Nacht, in der seine Tochter geboren wurde, erinnerte er sich daran, dass die Zeitung auf einen Artikel von ihm wartete. Den schrieb er natürlich, und die Überschrift, die er selbst formulierte, hieß: „Liebling, ich bin im Kino“. Ach, vermutlich war es genau diese aus dem echten Leben ins Schreiben mitgebrachte Zärtlichkeit, welche die Leser seiner Texte spürten, auch wenn sie dem Mann niemals begegnet sind und auch sein Bild nicht vor Augen hatten.

Als es darum ging, irgendwie zu ergründen, woher Robert Mitchum seine Weisheit und seine Coolness hatte, da schrieb Michael Althen über das Leben eines Mannes, der, bevor er ein Filmstar wurde, ein Herumtreiber, ein Boxer und ein Fließbandarbeiter gewesen war. Michael Althen hat schon weise Texte geschrieben, da war er fünfundzwanzig und schrieb vor allem für die „Süddeutsche Zeitung“, deren Redakteur er dann bis 2001, bis zum Wechsel zu dieser Zeitung, war. Über Nebentätigkeiten als Boxer und Herumtreiber ist nichts bekannt – Michael Althen, geboren 1962 in München und so wunderbar münchnerisch im Habitus, dass man München gar nicht vermisste, wenn man nur ihn in der Nähe hatte, Michael Althen, der Filmkritiker, Autor und Regisseur dreier großer und bewegender Dokumentarfilme, Schriftsteller, Redakteur, Michael Althen war eben weise.

Und dieser Michael Althen, der nicht wusste, wie man eine Filmkritik schreibt, wusste, ohne dass er je ein Drama daraus gemacht hätte, sehr gut, wie man lebt, wie man seinen Mitmenschen eine Freude ist und warum die Antwort auf die Frage, ob es sich zu leben lohne, nur ein tief gebrummeltes „Ja“ sein konnte.

Heute ist er gestorben. Wie sollen wir nur leben, schreiben, schauen ohne ihn?

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