22. November 1997 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Underworld

Das Leben ist ein Roman

Die Wirklichkeit im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit: Don DeLillos „Underworld”

Man muß von Baseball nichts verstehen, um zu begreifen, worum es geht: Einer wirft den Ball, und der Gegner versucht, ihn mit dem Schläger zu treffen. Und wenn er es dabei schafft, den Ball über das Spielfeld hinaus in die Zuschauerränge zu dreschen, dann nennt man das einen Homerun. Das entspricht in etwa dem, was beim Fußball ein Tor bedeutet. Und doch ist ein Homerun ungleich mehr. Was man schon daran sieht, daß Don DeLillo dem nur Sekunden währenden Flug des Balls beim Homerun stolze acht Seiten seines Romans widmet – und dem ganzen Spiel fünfzig, die wahrscheinlich zum besten gehören, was nicht nur die amerikanische Literatur in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Das hat mit Sport zwar wenig zu tun, aber bleiben wir trotzdem dabei.

Am 3. Oktober 1951 trafen die Brooklyn Dodgers und New York Giants im Finale der National League zusammen, und ein Mann namens Bobby Thomson entschied mit einem der berühmtesten Homeruns der Baseball-Geschichte das dritte Spiel für die Giants. Ganz New York feierte – mit Ausnahme von Brooklyn. Und am nächsten Tag schrieb ein Sportjournalist namens Red Smith in der New York Times über die Entscheidung: „Jetzt ist es vollbracht. Die Geschichte findet ihr Ende. Und es gibt keine Möglichkeit, sie zu erzählen. Die Kunst der Fiktion ist tot. Die Wirklichkeit hat jede Erfindung erstickt. Fortan kann nur noch das ausgesprochen Unmögliche, das unaussprechlich Phantastische, jemals wieder plausibel wirken. ” Vierzig Jahre später liest Don DeLillo einen Artikel über das Jubiläum dieses legendären Homeruns von Bobby Thomson – und vergißt die Sache wieder. Ein paar Wochen später fällt ihm die Geschichte wieder ein, und es kommt ihm so vor, als sei dies „das letzte, die Menschen verbindende Ereignis gewesen, das von Jubel statt Katastrophe erzählt”.

Er ging in die Bibliothek und suchte auf Mikrofilm die New York Times des folgenden Tages heraus und fand neben der Schlagzeile „Giants gewinnen Finale” eine andere, in der es um einen Atombombentest der Sowjets in Kasachstan ging. Und nachdem Bobby Thomsons Treffer als „Schlag, den man rund um den Erdball hören konnte” in die Geschichte einging, verspürte der Schriftsteller eine eigenartige Symmetrie, eine Art unterirdischer Verbindung, zwischen den beiden Schlägen.

So schrieb er die Novelle Pafko at the Wall, die im Oktober 1992 in Harper‘s erschien und nun den 50seitigen Prolog zu Underworld bildet. Und es ist, als wolle er den Satz des Sportjournalisten, die Fiktion sei tot, widerlegen: Es gibt eine Möglichkeit, diese Geschichte zu erzählen. Mit Sport hat sie allerdings nur wenig zu tun, sondern mit Amerika, dem Kalten Krieg, der zweiten Jahrhunderthälfte – also mit uns.

DeLillos Wahl ist auf diesen Homerun gefallen, weil es davon keine Fernsehaufnahmen gibt, nur Photos, eine Radioaufnahme und Augenzeugenberichte. Keine Wiederholung, keine Zeitlupe, nur Erinnerung und Imagination. Für DeLillo markiert dieses Ereignis sozusagen den Verlust der Unschuld: Jenseits dieses Ereignisses liegt der sich endlos wiederholende Schrecken der Amateur-Aufnahmen, die ein Mann namens Adam Zapruder von der Ermordung Kennedys gemacht hat. Von diesem Zeitpunkt an war es möglich, alles so lange zu wiederholen, bis es jeden Schrecken verloren hat. Das ist DeLillos Thema: Die Wirklichkeit im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

Was den Autor im Zeitalter medialer Vermarktbarkeit angeht, so gilt DeLillos geradezu als Phantom. Als die Zeitschrift Entertainment Weekly eine Rangliste unsichtbarer Autoren erstellte, landete er hinter Pynchon und Salinger auf dem dritten Platz. DeLillo gibt kaum Interviews, hält keine Vorlesungen und hält seinen Wohnort im Westchester County, nördlich von New York, geheim. Das hat zehn Romane lang ganz gut funktioniert, für Underworld mußte er sich jedoch der Welt stellen. Schließlich waren vor einem Jahr die englischsprachigen Rechte für 1,3 Millionen Dollar von Scribner ersteigert und die Filmrechte für eine weitere Million vom Produzenten Scott Rudin für Paramount gekauft worden. DeLillo meinte dazu nur: „Schreiber schreiben, Verleger verkaufen. ” Aber weil 300 000 Exemplare verkauft werden müssen, um aus den roten Zahlen zu kommen, hat der Einsiedler ein paar Interviews geben und Photos machen lassen müssen. Dann ist er wieder verschwunden.

Underworld kann durchaus für sich allein sprechen, auch wenn der Autor darin vor allem durch Abwesenheit glänzt. Er hat darin zwar zum ersten Mal seine Kindheit in der Bronx verarbeitet, aber es ist noch nie sein Ding gewesen, sein Ego durchscheinen zu lassen.

Im Gegenteil: Was DeLillo seit seinem ersten Roman Americana auszeichnet, ist eben jene Fähigkeit, dem Verschwinden des Subjekts, der Aufdringlichkeit der Objekte, der Flüchtigkeit der Empfindungen, Ausdruck zu verleihen. Wie ein rastloses Kameraauge schwirrt seine Erzählung durch Raum und Zeit, und wie bei kaum einem anderen erweckt das den Eindruck, da habe nach Joyce einer einen angemessenen Ausdruck für unser Jahrhundert gefunden und dafür, wie es unsere Wahrnehmung verändert hat.

Die Verschwörung sei die Grammatik der Welt, hat jemand geschrieben, der es wissen muß, und DeLillo hat diesen Satz so auf die Spitze getrieben, daß ihm nach Libra, zu deutsch Sieben Sekunden, vorgeworfen wurde, seine Romane würden nur die ewig gleichen paranoiden antiamerikanischen Ressentiments bedienen. Der Roman über den Kennedy-Attentäter Oswald, schrieb die Washington Post, sei ein Akt von literarischem Vandalismus und staatsbürgerlichem Fehlverhalten. Dabei sind Verschwörungstheorien nur eine Möglichkeit, die undurchsichtigen Ereignisse der Geschichte in eine Beziehung zueinander zu setzen, dem Chaos der Wirklichkeit ein Muster aufzuzwingen.

In Underworld wird alles vom Schatten der Atombombe zusammengehalten, der sich über alles Leben in unserer Zeit gelegt habe – unsichtbar, aber spürbar. Der Roman umspannt vierzig Jahre, beginnt mit Baseball und endet im Cyberspace. Es geht um allerlei Wüsteneien, um die Leerstellen der Geschichte und des Lebens und um eine Kultur, deren größtes Problem die Müllbeseitigung geworden ist. Das ist es, was Underworld bezeichnet: die Nachtseite der Dinge, alles, was jenseits des Sichtbaren liegt und doch vorhanden ist.

Der Flug eines Baseballs beim Homerun dauert nur einige Sekunden und läßt sich statistisch erfassen, aber DeLillo sieht hinter diesem Moment all die Leben, die von dieser Flugbahn tangiert werden: Frank Sinatra, J. Edgar Hoover und Jackie Gleason in ihrer Loge sowie all die anderen Namenlosen, denen DeLillo eine Geschichte erfindet. Das Englische hat ohnehin seine Art, sich die Dinge anzuverwandeln, aber DeLillo schafft es, unserem Jahrhundert seine eigene Melodie vorzuspielen und es zum Tanzen zu bringen.

1993 hat er wunderbar beschrieben, woher dieses Talent rühren mag: „Ich höre einen Rhythmus, der mich durch die Sätze treibt. Der Rhythmus eines Satzes erlaubt eine bestimmte Anzahl Silben. Eine Silbe zuviel – und ich suche nach einem anderen Wort. Es gibt immer ein anderes Wort, das fast dasselbe bedeutet – und wenn es das nicht tut, dann überlege ich mir, ob ich nicht die Bedeutung des Satzes ändere, um den Rhythmus, den Takt der Silben beizubehalten. Ich bin jederzeit bereit, mir von der Sprache Bedeutung aufzwingen zu lassen. Ich tippe lieber, als von Hand zu schreiben, weil ich es mag, wie Worte und Buchstaben aussehen, wenn sie von den Hämmern auf die Seite kommen – fertig, gedruckt, herrlich geformt.”

Der letzte Satz von Underworld besteht aus einem einzigen Wort: Peace. Friede. Man möchte heulen, so schön ist das.

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