14. März 2010 | Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung | Literatur, Rezension | Place de l’Étoile

Heller Morgen

Phantasmagorien eines Nachgeborenen: "Place de l'Étoile", Patrick Modianos Romandebüt aus dem Jahr 1968, ist jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienen

Die Namen von Straßen, Plätzen, Gebäuden sind bei Patrick Modiano immer mehr als nur Anhaltspunkte, um das Geschehen zu verorten – sie sind geradezu Teil einer Liturgie der Erinnerung, mit der er verzweifelt versucht, topographische Anker auszuwerfen, um sich ihrer zu versichern. Er betet sie so zwanghaft immer wieder herunter, dass man ihn geradezu als Topomanen bezeichnen müsste, wenn es ihm nicht gelänge, ihnen irgendwie den süßen Duft der Poesie zu entlocken. Die Straße der dunklen Läden wäre so ein Beispiel, das Café der verlorenen Jugend oder der Saal der verlorenen Schritte. Und auch „Place de l’Étoile“ bezeichnet keineswegs nur den weltbekannten Pariser Platz, sondern auch den Ort überm Herzen, an dem der Judenstern getragen werden musste.

Und das ist in diesem Fall noch wesentlicher als in seinen späteren Romanen, denn „Place de l’Étoile“ handelt mit einem Furor von jüdischer Identität, dass daraus eine Art Grand Guignol antisemitischer Klischees wird, die Phantasmagorie eines Nachgeborenen, der durch Überidentifikation eine Art Exorzismus betreibt, die Raserei eines literarisch Hochbegabten, der sich mit seinem Erstling offenbar austoben musste, um später zu jenen zarten Erinnerungsgespinsten zu finden, für die er geliebt wird.

„Place de l’Étoile“ ist der erste Roman Patrick Modianos, der 1968 Furore machte, aber bis heute unübersetzt blieb, weil es – wie die Übersetzerin Elisabeth Edl im Nachwort sagt – „im Augenblick des Sechstagekrieges und allgemein der Wiedergutmachung gegenüber Israel unmöglich war, ein solches Buch verständlich zu machen“. Das Buch ist noch heute schwer zu verstehen, wegen seines Wirbels von Anspielungen und Bezügen auf die literarische Geschichte von Okkupation und Kollaboration, aber es ehrt den Hanser-Verlag, der immer wieder auf Modiano zurückgekommen ist, dass er dies nun nachholt. Denn es erklärt auch, warum die Suche nach der jüdischen Identität die anderen Bücher oft nur wie ein Parfüm durchzieht: Weil Modiano bereits in seinem Debüt den Stier bei den Hörnern gepackt hat.

Der Held in seinem ersten Roman heißt Raphael Schlemilovitch – schon der Name ein Amalgam jüdischer Stereotypen -, der quasi als Ewiger Jude durch die Zeiten reist und sich die abenteuerlichsten Rollen vor, während und nach der Okkupation halluziniert. Man muss das Buch vielleicht vom Ende her lesen, wo er bei Doktor Freud auf der Couch liegt und diesen zur Verzweiflung treibt mit seinen Wahngeschichten, mit seinen Phantomerinnerungen an Zeiten, in denen er – wie Modiano – noch gar nicht geboren war. Denn im Verlaufe der Erzählung stirbt Schlemilovitch mehrmals, ist mal antisemitischer Jude in Diensten der Gestapo, mal Aufreißer für einen orientalischen Mädchenhändler in Savoyen und der Normandie, mal Vorzeigejude des Dritten Reichs, der auf dem Berghof den Geliebten von Eva Braun gibt, mal Assimilationsgenie, das in der Provinz die französische Scholle preist, mal Folteropfer in einem israelischen Umerziehungslager. Er ist Über- und Antijude in einem, ein Verschleierungs- und Entfesslungskünstler, der sich alle Vorurteile zu Herzen nimmt und in ihr Gegenteil verkehrt, ein unzuverlässiger Erzähler, wie er im Buche steht – und damit die einzig logische Antwort auf eine Historie, in der man sich als Jude auf nichts mehr verlassen konnte, am wenigsten auf die eigene Identität.

Was Schlemilovitch mit seinen Identitäten treibt, vollzieht Modiano in einem literarischen Scharade-Spiel nach, in dem er ungeniert alles adaptiert und verwurstet, was er sich als 22-Jähriger an Lektüre angefressen hatte: Céline, Proust, Sartre sind nur die bekannteren Namen, mit denen er spielt, aber auch Maurice Sachs, Lucien Rebatet oder Robert Brasillach kommen in diesem zitierwütigen Namedropping vor, dessen Lektüre durch Fußnoten stark erleichtert worden wäre. Die frühreife Unverschämtheit des Romans hat etwas Bezwingendes, auch wenn man manchmal Mühe hat, dem Verwirrspiel zu folgen. Aber gelegentlich findet sich dann doch einer jener Sätze, die den Kern dessen in sich tragen, was später bei ihm Blüten trieb: „Das alles, das war unsere Jugend, der helle Morgen, den wir niemals wiederfinden werden.“

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