29. September 2001 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Photographie, Rezension | Wim Wenders

Als das Wünschen noch geholfen hat

Der Filmemacher als Fotograf: Wim Wenders zeigt "Bilder von der Oberfläche der Erde" im Berliner Museum für Gegenwart

Wenn man vor diesen Fotografien kurz die Augen schließt, dann könnte es leicht passieren, daß man etwas verpaßt. Es wäre vielleicht nichts Weltbewegendes, und doch wäre hinterher nichts mehr so wie zuvor. Könnte sein, daß ein Windstoß das kleine rote Blatt von dem blauen Stein im Tempelgarten herabgeweht hat. Oder daß die Ampel vor dem Parkhaus in Houston auf Grün geschaltet hat. Oder daß einfach nur ein Wolkenschatten über die weiten Felder Montanas gejagt ist. Könnte ja sein. Natürlich wird aller Wahrscheinlichkeit nach nichts von alledem passieren. Allenfalls wird die Sonne ein Stück weiterwandern, ein Auto durchs Bild fahren, ein Passant stehenbleiben. Mehr nicht. Aber vielleicht reicht ja schon die bloße Möglichkeit, um diese Augenblicke so fragil erscheinen zu lassen.

Wim Wenders hat 1983 bei der Suche nach Drehorten für „Paris, Texas“ mit dem Fotografieren angefangen und seither seine schwere Kameraausrüstung immer mitgeschleppt, durch die USA, nach Australien, Japan, Israel, Cuba. Nun ist unter dem Titel „Bilder von der Oberfläche der Erde“ eine Auswahl aus seinem Gesamtwerk im Berliner Museum für Gegenwart im Hamburger Bahnhof zu sehen, wo die Fotografien erstmals in dem ihnen angemessenen Format zur Geltung kommen. Die Panoramaaufnahmen sind fast zwei Meter hoch und viereinhalb Meter breit und laden schon dadurch ein, in die Bilder einzutreten und den Blick schweifen zu lassen. So wird daraus eine Reise um die Welt in 40 Bildern.

Es ist häufig darüber geredet worden, wieviel sich im Werk des Regisseurs dem Maler Edward Hopper verdankt, dessen „Bilder in Wartestellung“ oft wie die Anfänge von noch zu erzählenden Geschichten wirken, aber gerade in der gewaltigen Ausdehnung der Panoramen in dieser Ausstellung hat man den Eindruck, daß die Fotos genauso oft durch Musik geprägt sein könnten. All die Landschaften, Straßen und Interieurs wirken buchstäblich so, als seien sie irgendwelchen Songs abgelauscht, als seien sie Bild gewordene Musik, die man auch hören könnte, wenn man nur genau genug hinsieht. Und die Bildlegenden, die Wenders für den Katalog verfaßt hat, klingen manchmal durchaus wie die Anfänge von Songtexten, welche die Bilder quasi vertonen: „Wir schlugen unser Lager hier für eine Nacht auf. Sechs Wochen lang schlief ich nur unter dem Sternenhimmel, dem Kreuz des Südens. Als wir zurück in die Städte kamen, konnte ich für eine Weile nur auf Balkonen übernachten.“ Und wenn man dazu die Abenddämmerung über den westaustralischen Bungle Bungles sieht, dann hat man schon den halben Soundtrack zu einem Film, der nur in unseren Köpfen existiert.

Was Wenders mit anderen Großen der Filmgeschichte wie Hitchcock oder Antonioni verbindet, ist sein topographisches Gespür, sein untrüglicher Blick für Schauplätze. Allein schon deswegen sind natürlich auch seine Fotografien Terrain für Geschichten, die sich dort ereignen könnten. Wobei die Landschaften keineswegs nur Hintergrund oder Kulisse sind, sondern stets eine Spannung bergen, an der sich das Erzählen quasi von allein entzünden kann. Vielleicht ist es das, was man in den Bildern als so faszinierende Leere wahrnimmt: daß sie Wenders‘ Überzeugung widerspiegeln, wonach sie „Wahrhaftigkeit nur in Bezug zu einer Figur innerhalb der Geschichte“ besitzen. Der drohenden Selbstgefälligkeit der Bilder entgeht Wenders – wie Hopper -, indem er als Beobachter in seinen Bildern präsent ist.

Am deutlichsten ist diese Seelenverwandtschaft in dem Bild „Two Cars and a Woman waiting“ zu sehen, das Wenders 1983 in Houston aufgenommen hat. Schon der stark beschnittene Ausschnitt durch den Fassadenschlitz eines Parkhauses impliziert die Anwesenheit eines zufälligen, heimlichen Zeugen, dessen Blick von einer Situation angezogen wird, die ein fiktives Potential birgt. Die beiden Autos derselben Marke, deren Fahrer man nicht erkennen kann, und die Frau mit dem gesenkten Haupt, die einen Koffer trägt. Fast könnte man das Bild als Aufforderung begreifen, sich eine Geschichte dazu auszudenken, und plötzlich wirkt auch der zufällige Lichtreflex auf dem linken Wagen wie ein geheimes Signal.
In der Regel kommen die Fotos aber ganz ohne handelndes Personal aus und kreisen gebannt um ihr leeres Zentrum. Der Mensch ist meistens nur noch als Spurenelement vorhanden, und der fiktive Impuls richtet sich eher in die Vergangenheit als in die Zukunft. Wohin Wenders auch blickt, ob in den amerikanischen Westen, die Golan-Höhen oder in Scheunenviertel, überall entdeckt er Geisterstädte, die in einer Art ruinöser Schönheit vor sich hindämmern. Und die Beharrlichkeit seines Blicks ist gepaart mit der Sehnsucht, die Orte könnten vielleicht ihre Geschichte preisgeben, wenn man nur lange genug auf sie blickt. Als würden die Echos des Gesagten, die Schatten des Geschehenen, die Phantome des Gewesenen auf ewig durch die Gemäuer irren und darauf warten, erlöst zu werden, indem jemand ihre Geschichten erzählt. Indem sich jemand in diese Orte hineinträumt.

Aber auch dort, wo die Zivilisation noch nicht kapituliert hat, entdeckt Wenders jene von unsichtbaren Stimmen und Geschichten angefüllte Leere, etwa den mit Abfall übersäten Boden des Dortmunder Westfalenstadions nach einem Konzert der Toten Hosen, eine futuristische Boutique in Tokio oder eine Bar am Strand von Tel Aviv, in der ein fahles Neonlicht unter violettem Nachthimmel sich über die Gäste ergießt wie die Lava über Pompeji. Und womöglich muß man auf diese Bilder blicken wie Ingrid Bergman in Rossellinis „Viaggio in Italia“ auf die Gipsabgüsse der Toten in der Gräberstadt: voller Trauer über all das Leben, das in ihnen war und nun verloren ist. Im Grunde blickt Wenders schon in dem Moment, wo er die Strand-Szenerie ins Auge nimmt, aus der Zukunft auf diese Menschen – als seien sie bereits unwiederbringliche Vergangenheit. Dabei pflegt er aber nicht den nüchternen Blick des Archäologen, sondern wird getragen von einer unglaublichen Zärtlichkeit für jene seltsame Spezies, die sich Mensch nennt.

Wenders selbst schreibt in seinem Katalogtext: „Orte haben ein Gedächtnis. Sie erinnern sich an alles, als sei es in Stein gemeißelt, tiefer als der tiefste Ozean. Vielleicht fotografiere ich deswegen vor allem Orte: Um ihre Existenz nicht als selbstverständlich und gegeben hinzunehmen. Um an ihr Erinnerungsvermögen zu appellieren, uns nicht zu vergessen.“ Und wenn man vor den Bildern steht, ist es tatsächlich für einen Moment so, als habe sein Wünschen geholfen: als würde unter der Oberfläche der Erde sichtbar, was ihr an Erinnerung eingeschrieben ist.

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