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Perverses Glück: Steven Shainbergs Film SECRETARY
Das Plakat zeigt die Rückenansicht einer vornübergebeugten Frau, kein Gesicht, nur Hintern, hochhackige Schuhe und Strümpfe mit Naht – und führt völlig in die Irre. Denn genau um diese Form von Erotik geht es in SECRETARY nicht. Auch wenn die Titelheldin (Maggie Gyllenhaal) schon in der ersten Einstellung mit ausgebreiteten Armen an eine Schiene gefesselt ist, die sie wie ein Kreuz über den Schultern trägt, und in dieser unmöglichen Stellung ihre Arbeit verrichtet, legt Regisseur Steven Shainberg in der Folge wenig Interesse an den Tag, die Sekretärin zum Objekt zu degradieren. Es gibt keine Form von Sexualität in diesem Film, die nicht ihren Ausdruck einzig und allein in den Gesichtern fände. Wie nahe Lust und Schmerz beieinanderliegen, läßt sich nur dort ablesen.
Nach diesem grotesken Einstieg in den Sadomasochismus, von dem man noch nicht weiß, ob er allen Ernstes Abhängigkeiten der Arbeitswelt auf die Spitze treiben oder mit dem Zuschauer nur sein Spiel treiben will, folgt eine Einblendung: „Sechs Monate früher…“. Man sieht, wie die unscheinbare Lee aus der Psychiatrie entlassen wird, wie sie nach Hause kommt, wo ihre hübsche Schwester Hochzeit feiert, ihr Vater wieder mal betrunken und ihre hysterische Mutter voller Sorge ist. Die Figuren sind überzeichnet, die Farben unnatürlich grell, und das Pathologische tritt gleich überdeutlich zutage. Binnen kürzester Zeit flieht Lee in ihr Mädchenzimmer, wo sie ihr geheimes Schatzkästchen hervorholt, in dem sie allerlei spitze und scharfe Werkzeuge zur Selbstverstümmelung gesammelt hat. Die ersten Szenen sind so scharf gezeichnet, daß wenig Hoffnung bleibt, der Film könnte je Raum für Zwischentöne lassen.
In der Tat besitzt Shainberg wenig Talent für den Umgang mit Nebenfiguren, die stets wie Abziehbilder auf der Oberfläche der Geschichte pappen. Sobald er sich jedoch aufs Wesentliche konzentriert, gewinnen seine Figuren eine erstaunliche Kraft und Lebendigkeit. Lee besucht einen Schreibmaschinenkurs und bewirbt sich bei dem Anwalt E. Edward Grey (James Spader), der Orchideen züchtet und mit seiner Pedanterie offenbar schon mehrere Sekretärinnen zur Verzweiflung getrieben hat. Aber Lee fügt sich mit Hingabe in den Job und seine Anforderungen, läßt sich durch keine noch so stupide Arbeit schrecken und erträgt auch Demütigungen mit unerschütterlicher Geduld. So eindeutig die Rollen anfangs auch verteilt sein mögen, so vielfältig verlaufen die Kraftlinien in dieser Beziehung.
Als der Anwalt seiner Sekretärin wegen eines Rechtschreibfehlers befiehlt, sich vornüberzubeugen und die Hände auf den Schreibtisch zu legen, und ihr auf den Hintern schlägt, bis sie blaue Flecken hat, finden die beiden ihre Erfüllung. Die Kunst Shainbergs liegt darin, daß er dieser Beziehung tatsächlich ein fast unschuldiges Glück abgewinnt, das alle Perversion zu leugnen scheint. Das liegt vor allem daran, daß die Kamera während der Züchtigung in Lees Gesicht blickt, wo sich Erstaunen, Erschrecken und Erfüllung gleichzeitig spiegeln. Es ist der Moment, da das ewige Mädchen zur Frau wird, wo sie ihres bis dahin fremden Körpers gewahr wird und mit neuem Selbstbewußtsein durchs Leben schreitet. Fortan ist sie bereit, für ihr seltsames Glück zu kämpfen, und plötzlich ist sie es, die in diesem Spiel um Unterwerfung den Ton angibt.
Wo der Sadomasochismus in der populären Kultur oft zum frivolen Spiel mit den Zeichen des Fetischismus verkommt, wird er in SECRETARY so ernst genommen, daß auch die absurd komische Seite der Sache thematisiert werden kann. Daß man bis zum Schluß nicht sagen kann, ob der Film ein Wolf im Schafspelz oder doch ein Schaf im Wolfspelz ist, macht seine Stärke aus.