29. November 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Mystic River

Vielleicht geht das Leben weite

Clint Eastwood beweist mit seinem Film MYSTIC RIVER, daß er immer noch der Größte ist

Auch wenn man beiden Regisseuren damit eigentlich unrecht tut: Clint-Eastwood-Filme ohne Clint Eastwood sind ein wenig so wie Woody-Allen-Filme ohne Woody Allen. Eine leise Enttäuschung läßt sich nicht verkneifen, zumal Eastwoods jüngste Filme wie BLOOD WORK und TRUE CRIME ohne ihn nur halb so gut gewesen wären. MYSTIC RIVER muß also ohne Eastwood auskommen – aber man vermißt ihn tatsächlich keine Sekunde lang, weil er als Regisseur gegenwärtig genug ist. Spürbar wird diese Präsenz allerdings gerade nicht durch eine Regiearbeit, die dauernd auf sich aufmerksam machen will, sondern durch die zurückgelehnte Art, mit der Eastwood diese Geschichte erzählt. Als würde er mit den für ihn typischen, zusammengekniffenen Augen inszenieren, denen nichts entgeht, und jedem Blick standhalten. Eastwood ist ein Mann, der weiß, was er will, und der warten kann, bis es passiert.

So wird das, was ihn als Schauspieler auszeichnet, auch zur Handschrift seiner Arbeit als Regisseur. Als Zuschauer merkt man schnell, daß man sich seinem Blick anvertrauen kann, daß er keine Spielchen treiben und einen nicht enttäuschen wird. Und falls man an Hollywoods Formelhaftigkeit zu verzweifeln droht, kann einem MYSTIC RIVER den Glauben ans amerikanische Kino zurückgeben. Denn der Film besitzt genau den großen Ernst und die ruhige Schönheit, die einst die Western der vierziger oder die Polizeifilme der siebziger Jahre auszeichneten.

Es beginnt mit einem Blick über die Dächer von Boston, einem Schwenk hinab aufs Arbeiterviertel am Mystic River. Die Väter sitzen auf dem Balkon, trinken Bier und reden über die Red Sox. Die Söhne spielen auf der Straße Hockey, ihr Ball verschwindet im Gully, sie vertreiben sich die Zeit, indem sie ihre Namen in den feuchten Zement einer Baustelle schreiben. Ein Wagen hält an, ein Mann steigt aus, Handschellen am Gürtel, staucht die Kinder zusammen, läßt einen von ihnen ins Auto einsteigen, um ihn bei den Eltern abzuliefern. Ein zweiter Mann auf dem Beifahrersitz dreht sich grinsend um, an seiner Hand sieht man einen Ring mit einem Kreuz. Der Wagen fährt davon, die Freunde bleiben zurück. Später sieht man den Jungen in einem Kellerverlies und die Männer, die zu ihm hinabsteigen. Dann die Freunde, die ihren Vätern von dem Vorfall berichten. Und wieder den Jungen, wie er in Panik durch einen Wald flieht. Schließlich Polizisten und Neugierige vor dem Elternhaus des Jungen. Er ist zurückgekehrt, am Fenster ist kurz seine Silhouette sichtbar, ehe der Rolladen herabgelassen wird. Auf der Straße stehen seine Freunde. Nichts wird mehr sein, wie es war.

Schon wie Eastwood diesen Anfang in Szene setzt, wie er in knappen Strichen das Viertel, die Welt der Jungen, den Albtraum, den Verlust der Unschuld zeichnet, ist atemberaubend. Nichts wird ausgemalt, und doch genügt das, was man sieht, um die Fäden der Erzählung später immer wieder auf diesen Knoten zulaufen zu lassen. Irgendwann wird einer sagen, es komme ihm vor, als seien an jenem Nachmittag alle drei in diesen Wagen gestiegen, und man wird wissen, was er meint. Man hat das angsterfüllte Gesicht gesehen und die Blicke der verschonten Freunde und hat das Unheil gespürt, das über diesem Abschied lag.

Fünfundzwanzig Jahre später ist aus dem mißbrauchten Jungen ein Mann (Tim Robbins) geworden, ein Vater, der seinen Sohn so beschützt, wie er es selbst nicht erlebt hat. Der eine Freund (Sean Penn) ist im Viertel geblieben, betreibt einen kleinen Supermarkt, war im Knast, hat aus erster Ehe eine fast erwachsene Tochter und weitere Töchter mit seiner zweiten Frau (Laura Linney). Der andere Freund (Kevin Bacon) hat seiner Vergangenheit den Rücken gekehrt, ist Detective geworden und in diesem Job offenbar so aufgegangen, daß ihn seine schwangere Frau verlassen hat. Was die drei erneut zusammenbringt, ist der Mord an der älteren Tochter des einen. Sie war mit Freundinnen aus, hat in einer Bar getanzt und ist dann verschwunden. Am anderen Morgen finden Jungs ihren leeren Wagen mit Blutspuren am Straßenrand.

Diesmal nimmt sich Eastwood alle Zeit, die schrecklichen Stunden der Ungewißheit auszumalen, von der lähmenden Ahnung bis zur entsetzlichen Gewißheit: die sorglose Irritation des Vaters, als sie sich nicht zur Arbeit meldet, die zunehmende Unruhe, als sie bei der Kommunion der Schwestern auch nicht auftaucht, die aufsteigende Panik, als plötzlich überall Sirenen zu hören sind, die verzweifelte Raserei, als er langsam die Wahrheit ahnt, der ungläubige Schrei, als es Gewißheit wird – und da durchbricht Eastwood ein einziges Mal die Nüchternheit seiner Inszenierung, indem er die Kamera emporschweben läßt und den Mann von oben in seinem Schmerz zeigt, wie er von einer Horde Polizisten mühsam gebändigt wird.

Die Kraft dieser Szenen verdankt sich natürlich auch Sean Penn, der hier wieder mal das Versprechen einlöst, das seine Karriere immer gewesen ist, aber nicht weniger eindrucksvoll sind Kevin Bacon, dessen schauspielerische Intelligenz gerne unterschätzt wird, und Tim Robbins, der mit hängenden Schultern und unstetem Blick wie lebendig begraben wirkt. Nicht zu reden von Laurence Fishburne als dem Kollegen Bacons, der einen weniger bestechlichen Blick auf die Verstrickungen hat, und Marcia Gay Harden als Robbins‘ Ehefrau, der ihr Mann immer fremder wird. Sie alle treiben in diesem aquariumtrüben Boston unausweichlich auf eine weitere Tragödie zu.

Was diese Verfilmung eines Romans von Dennis Lehane nach einem Drehbuch von Brian Helgeland über den bloßen Kriminalfall hinaushebt, ist die Tatsache, daß die Auflösung weder der alleinige Motor des Films ist noch letztlich Erlösung bringt. Es geht darum, wie Menschen mit dem Schmerz umgehen, wie sie mit Schuld fertig werden, wie sie sich panzern, wie sie fliehen – oder wie es der Vater vor der Leiche seiner Tochter formuliert: „Im tiefsten Inneren weiß ich, daß ich an deinem Tod schuld bin. Ich weiß nur nicht, wie.“ Und Eastwood führt es ihm vor Augen. Denn das Blut an den Händen wird keiner mehr los, und keine Schuld bleibt ungesühnt.

Wie schon in seinem Meisterwerk UNFORGIVEN zeigt Eastwood, der sich als Dirty Harry einst den Vorwurf des Vigilantentums gefallen lassen mußte, Gewalt nicht als Lösung, sondern als Gefängnis, aus dem keiner mehr freikommt, sosehr er es auch versucht. Am Ende sind die Figuren wie in einem Albtraum gefangen, in dem alle Antworten gegeben und doch alle Fragen offen sind. Im Sonnenlicht einer Straßenparade stehen sich zwei der Freunde von einst gegenüber, vielleicht geht das Leben weiter, als wäre nichts gewesen, vielleicht werden sie die Geister der Vergangenheit erneut einholen; und dann blickt die Kamera ein letztes Mal auf den Fluß, dessen Ruhe so trügerisch ist, weil er mehr Geheimnisse birgt, als er preisgeben kann.

Clint Eastwood ist dreiundsiebzig Jahre alt. Er hat die einfachen Lösungen satt. Seine große Kunst besteht darin, die Widersprüche auszuhalten, die sonst im amerikanischen Kino gern in Wohlgefallen aufgelöst werden.

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