13. Dezember 2001 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Memento

Alzheimers Wahn

Zur Abwechslung kann man niemandem den Spaß verderben, wenn man das Ende verrät. Denn mit der Erschießung eines Mannes namens Teddy beginnt der Film, um sich dann nach und nach zu dem Moment zurückzutasten, in dem alles begann. Regisseur Christopher Nolan hat die Chronologie auf den Kopf gestellt und erzählt die Geschichte seines Thrillers MEMENTO rückwärts, indem er sich Szene um Szene am roten Faden durch ein Reich verblassender Erinnerungen hangelt. Aber womöglich handelt es sich dabei nur um ein Möbiusband, in dessen endloser Schleife der Held gefangen ist.

Anfangs sieht man das Polaroid von Teddys Leiche, das mit jedem Schütteln undeutlicher wird; dann fließt ein Blutstropfen gegen die Schwerkraft nach oben, eine Patronenhülse rollt zurück in die Waffe, die Brille springt ihrem Träger auf die Nase, und der Schuß löst sich aus dem Opfer, um in die Waffe zurückzufliegen – der Film scheint zu implodieren, ehe er überhaupt richtig angefangen hat.

Es gibt einen guten Grund für diese Vorgehensweise, denn der Held Leonard Shelby hat vom Mörder seiner Frau einen Schlag auf den Kopf bekommen und dabei sein Kurzzeitgedächtnis verloren. Er vermag sich an alles zu erinnern, was vor dem Mord liegt, aber seither kann er kaum länger als ein paar Minuten behalten, was ihm widerfährt. Was er sich nicht sofort aufschreibt, vergißt er, und so hat er ein System von Merkhilfen ersonnen, mit denen er sich von Augenblick zu Augenblick rettet: Von den Leuten, denen er begegnet, schießt er Polaroids, die er mit Anmerkungen versieht, um einordnen zu können, welche Rolle diese Figuren in seinem Leben spielen. Unter Teddys Foto steht: Trau seinen Lügen nicht. Später kommt hinzu: He’s the one. Kill him. Unter dem Bild einer Frau notiert er: Natalie. Sie hat auch jemanden verloren. Sie hilft dir aus Mitleid. Allen, die er trifft, erzählt Shelby von seinem Zustand. Aber meistens winken sie nach wenigen Worten ab – er habe die Geschichte schon einmal erzählt. Worauf er nur entgegnen kann: „Nimm’s nicht persönlich, daß ich mich nicht an dich erinnere.“

Damit er in diesem Kartenspiel aus Polaroids – bei dem nie ganz klar ist, wer Bube, Dame, König oder As ist und wer wen nach welchen Regeln sticht – sein Ziel nicht aus den Augen verliert, hat Shelby die wirklich wichtigen Fakten in seinen Körper eintätowieren lassen. Da steht dann: „John G. hat meine Frau vergewaltigt und ermordet.“ Und darunter: „Finde ihn und bringe ihn um.“ Und an der Wand seines Motelzimmers hat er eine Übersichtskarte angebracht, auf der er mit einem Diagramm das Labyrinth abzubilden versucht, das sein Leben geworden ist. Der schreibende Neuropsychologe Oliver Sacks hätte an diesem Fall seine wahre Freude gehabt, aber auch Jorge Luis Borges hätte so eine Figur ersinnen können.

Es ist nicht das erste Mal, daß jemand eine Geschichte von hinten aufrollt – das haben schon Harold Pinter in BETRAYAL und Martin Amis in TIME´S ARROW gemacht -, aber so konsequent hat das im Kino noch keiner versucht. Christopher Nolan bürstet die Genreregeln des film noir gegen den Strich und verwandelt das, was man sonst Neo-Noir nennen würde, in eine Art Meta-Noir, der mehr mit LETZTES JAHR IN MARIENBAD zu tun hat als mit den Klassikern des Genres wie DIE BLAUE DAHLIE, in dem es auch ums Vergessen geht. Dazu gehört auch, daß die Schauspieler gerade im Rahmen dieser Geschichte Erinnerungen an ihre früheren Rollen wecken: Guy Pearce an L. A. CONFIDENTIAL, Carrie-Anne Moss und Guy Pantoliano an THE MATRIX und Stephen Tobolowsky an GROUNDHOG DAY – drei Filme, die in ihrer Art, mit Wahrheit und Illusion ihr Spiel zu treiben, durchaus bei „Memento“ Pate gestanden haben könnten.

Man kann der Geschichte nicht allzusehr auf den Grund gehen, ohne ihren Clou zu verraten, aber einer der entscheidenden Sätze lautet sicher: „Erinnerung ist Verrat.“ Auf faszinierende Weise wird man in diesem Film auf existentielle Fragen gestoßen, die auch Max Frisch in „Stiller“ oder „Mein Name sei Gantenbein“ beschäftigt haben. „Jemand macht sich ein Bild und hält das um jeden Preis für die Wahrheit“, hieß es bei Frisch – Christopher Nolan nimmt ihn beim Wort. Die Polaroids und Tätowierungen bilden die einzigen Koordinaten in einem Leben, in dem alles so schnell verfliegt, wie es geschieht – aber natürlich erzählen sie immer nur die halbe Wahrheit und verbergen bald mehr, als sie enthüllen. Der Held Lenny beharrt anfangs darauf, er wisse bei aller Vergeßlichkeit stets, wer er sei, doch irgendwann stellt er auch sich die Frage: „Ist man derselbe, wenn man sich nicht erinnert?“ Die wahre Geschichte von MEMENTO heißt: Deconstructing Lenny.

Zwei Schritte zurück, einen Schritt vor: Das ist die Fortbewegungsweise dieses Films, und sie verlockt dazu, sich zu überlegen, ob der Plot auch einen Sinn ergäbe, wenn man ihn chronologisch erzählen würde. Auf DVD wird man das später überprüfen können, aber natürlich geht das an der Sache vorbei, denn gerade der Umstand, daß die Wirkungen von den Ursachen getrennt sind, verleiht dieser Geschichte ihren Reiz. Schicht um Schicht legt man das Geheimnis frei, das sich stets dem Zugriff zu entwinden sucht, und man fühlt sich, als würde man eine jener ineinandergesteckten russischen Holzpuppen auseinandernehmen. Am Ende weiß man nur, daß man den Lügen dieses Films nicht trauen darf – aber seinen Wahrheiten erst recht nicht.

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