01. November 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Die Klasse von ’99

Aus einem deutschen Herbst

Marco Petrys erstaunlich stimmiger Film aus dem Niemandsland zwischen Abitur und Zukunft: DIE KLASSE VON '99

Eines der Probleme des deutschen Autorenfilms war, daß er der Jugend wenig zu sagen hatte. Aus deren Sicht stellte sich der Neue Deutsche Film als Kino vorzeitig gealterter Regisseure dar. Die Alternative waren allerdings Filme wie GIB GAS, ICH WILL SPASS oder DER FORMEL-EINS-FILM, die so verzweifelt auf der Höhe ihrer Zeit zu sein versuchten, daß sie schon beim Start verdammt alt aussahen. Also hielt man sich ans amerikanische Kino, wo der Abschiedsschmerz der Jugend viel besser aufgehoben schien. Von AMERICAN GRAFFITI über die Brat-Pack-Filme bis DINER fand man eine Heimat für jenes Lebensgefühl, das zwischen dem Verlust jugendlicher Unschuld und dem unvermeidlichen Ernst des Erwachsenseins gefangen war. So richtet sich die Nostalgie einer ganzen Generation auf eine Jugend, die sie nie gehabt hat, weil sie nur in amerikanischen Filmen stattfand. Wenn man deren Bildern heute begegnet, wird man geradezu von einem Phantomschmerz befallen.

Man kann über das deutsche Kino, das dem Autorenfilm nachgefolgt ist, sagen, was man will: Seine Regisseure haben wenigstens begriffen, daß es auch hierzulande Jugendliche gibt, die nicht wissen, wohin mit sich, und in ihrer Orientierungslosigkeit gute Kinohelden abgeben. Unter diesen jugendbewegten Filmen gehörte Marco Petrys SCHULE zu den gelungeneren, weil er im Ödland zwischen Stadt und Provinz, zwischen Pubertät und Abitur eine Melancholie fand, die dem Helden Daniel Brühl gut zu Gesicht stand. Drei Jahre sind seither vergangen, und Petry hat zwar keine Fortsetzung gedreht, aber der Frage nachgespürt, was eigentlich nach dem Abitur passiert, wenn man plötzlich gezwungen ist, das Versprechen einzulösen, welches die eigene Jugend darstellte. Brühl und sein Kumpel Niels-Bruno Schmidt tauchen in DIE KLASSE VON ’99 nur noch in einem Gastauftritt auf. Sie sitzen bekifft auf einem Sofa und sagen wenig, so als wollten sie damit eine Antwort auf die Frage geben, was wohl aus den Helden von SCHULE geworden ist: nicht viel. Sie sitzen immer noch da. Abitur ist auch nicht mehr das, was es mal war.

Wo SCHULE einen letzten Sommer zwischen Pausenhof und Baggersee beschwor, als sei es ein Abschied für immer, da stürzt sich DIE KLASSE VON ’99 folgerichtig in den Herbst, als wäre tatsächlich bald aller Tage Abend. Kameramann Axel Block entwirft Bilder von einer blaugrauen Feuchtigkeit, die gleich spüren lassen, daß sich diese Jugendlichen warm werden anziehen müssen, wenn sie über diesen Winter ihres Mißvergnügens kommen wollen.

Erst mal kommt Felix (Matthias Schweighöfer) zurück aus der Großstadt in die niederrheinische Provinz, wo er nach abgebrochenem Studium auf die Polizeischule gehen wird. Er wird wieder bei den Eltern wohnen und hofft auch sonst, daß alles beim Alten geblieben ist. Diesen Zwiespalt, der jede Art von Klassentreffen dominiert, fängt Petry sehr genau ein: einerseits die Sehnsucht nach den alten Verhältnissen, andererseits das damit verbundene Grauen, in jedem Fall zwangsläufig mit Enttäuschung verbunden. So ist es auch hier: Der beste Freund Sören (Tim Sander) versucht sich als Immobilienmakler, verdient sein Geld aber, indem er Ecstasy-Pillen über die holländische Grenze schmuggelt, und ist im übrigen mittlerweile entgegen einer alten Abmachung mit Felix‘ unerfüllter Jugendliebe Simona (Anna Bertheau) liiert. Schmidt und Hausschild (Axel Stein und Thomas Schmieder) hoffen immer noch, in der örtlichen Disco endlich eine Frau zu finden, und vertreiben sich bis dahin die Zeit mit Kiffen.

Alles gleich, alles anders. In diesem Reich der gemischten Gefühle spielt der Film, und er verstärkt den Zwiespalt noch, als Felix beim Schmuggeln mithelfen soll, obwohl er als Polizeischüler eigentlich auf der anderen Seite des Gesetzes steht. So machen die beiden ihre Touren über die Grenze, bis es Felix zuviel wird, hängen abends in der Kneipe herum und warten, bis sich das alte Zusammengehörigkeitsgefühl wieder einstellt. Und weil das nicht so richtig passieren will, wird viel getrunken und gekifft und manchmal auch das Leben herausgefordert, um wenigstens irgend etwas in Gang zu bringen.

Daß der Ernst des Lebens so gar keine Verheißung darstellt, gehört zu den Gesetzen des Genres, das stets von Zukunftsangst lebt und davon, die Gegenwart schon zu verklären, kaum daß sie vergangen ist. Eine Verheißung birgt der Film dann aber doch: Man möchte gerne sehen, wie sich Marco Petry den Frühling vorstellt.

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