21. September 2000 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Kalt ist der Abendhauch

Schief gelaufen

Rainer Kaufmann verfilmt Ingrid 
Nolls KALT IST DER ABENDHAUCH

Und wieder stellt sich beim deutschen Film die Frage: Was ist da schief gelaufen? Die Vorlage stammt von Ingrid Noll, die der Regisseur Rainer Kaufmann schon bei DIE APOTHEKERIN erfolgreich verfilmt hat. Produziert hat Günter Rohrbach für Senator. August Diehl aus 23 spielt mit – und Vadim Glowna, Heinz Bennent, Gisela Trowe und Gisela Schneeberger. Klaus Eichhammer stand an der Kamera, Knut Loewe hat das Szenenbild gemacht, und Niki Reiser die Musik komponiert. Lauter Leute, die in der Regel wissen, was sie tun.

Es lässt sich auch gut an. Unterm Vorspann sieht man Treibgut auf einem Fluss, Blätter, eine Heuschrecke, tote Falter – dann taucht eine Bastkiste auf, und der Film beginnt. Eine alte Frau, die mit einer Schaufensterpuppe spricht. Eine Rückblende in Vorkriegszeiten, in der die Beziehungen sortiert werden. Ein ungelenkes Mädchen himmelt einen Jungen an, der aber die Schwester liebt. Und alle wissen es – nur das Mädchen nicht. Der Vater hat einen Schuhladen, der Bruder ist schwul – und bis es zur ersten Katastrophe kommt, ist noch alles im Lot. Das hat noch einen Zug, und es gibt Szenen, die ihre Kraft aus sich selbst schöpfen. Da rennt dann das Mädchen aus enttäuschter Liebe in ihr Zimmer, schnappt sich einen Schuh und versucht vor Wut, den Absatz abzubrechen. Und als ihr das nicht gelingt, pfeffert sie ihn in die Ecke. Eine schöne Szene, die nicht versucht, alles auf einen Punkt zu bringen, die von ihrer Vergeblichkeit lebt.

Was man da noch nicht weiß, aber aufgrund der Rückblende ahnen könnte, ist, dass der Film das große Panorama versucht: deutsche Schicksale rund um den Weltkrieg, vorher, währenddessen und danach. Dafür hat der Film nicht den Atem – und die Produktion vielleicht auch nicht das Geld. Alles scheint gleichzeitig zu klein und zu groß. Historie wird abgehakt, Biografien werden angedeutet – und was an Spannung übrig bleibt, verflüchtigt sich in der hölzernen Rückblendenstruktur. Man weiß, was kommen wird, und das verleiht dem Erzählen auch keine Zwangsläufigkeit.

Nach etwas mehr als einer Stunde ist der Film am Ende. Man könnte sagen, dass er bis dahin seine Sache noch ganz ordentlich macht. Dann wird, wie man so sagt, ein neues Fass aufgemacht, obwohl die Luft raus ist. Alles ist erzählt, und lose Enden gibt es auch nicht. Es kommt aber nochmal eine halbe Stunde, in der zu Schanden gefahren wird, was an Sympathien übrig war. Es ändert sich auch der Ton – nicht nur, weil sich der Film plötzlich als Farce versteht, wo er vorher gefühlsmäßig eher auf die Tube drückte, sondern auch, weil plötzlich alle die Lust verloren zu haben scheinen: der Regisseur die Schauspieler, einfach alle. Sie bewegen sich nur noch durch Kulissen, die ihnen herzlich fremd sind. Eigentlich wird die Geschichte nur noch abgewickelt – wenn von ihr noch etwas übrig wäre.

KALT IST DER ABENDHAUCH exerziert das, was man Dekonstruktion nennt. Man kann praktisch zusehen, wie der Film in seine Bestandteile zerfällt. Er möchte ein bisschen „Die Brücken am Fluss” sein und ein wenig Fassbinder und ein Schuss Färberböck. Vor allem hat man aber den Eindruck, der Film möchte einfach nicht er selbst sein. Er hat keine Seele, und was ansonsten dabei schief gelaufen ist, kann man noch nicht einmal erahnen.

KALT IST DER ABENDHAUCH, D 2000 – Regie: Rainer Kaufmann. Buch: Ralf Hertwig, Kathrin Richter nach dem gleichnamigen Roman von Ingrid Noll. Kamera: Klaus Eichhammer. Schnitt: Ueli Chirsten. Musik. Niki Reiser. Mit: Fritzi Haberlandt, August Diehl, Vadim Glowna, Gisela Trowe, Elisabeth Trissenaar, Heinz Bennnent, Fabian Busch. Verleih: Senator. 100 Minuten.

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