21. Dezember 2000 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Les glaneurs et 
la glaneuse

Aus den Tiefen der Erinnerung

Was bleibt vom Jahr 2000: Filmkritiker über jene Momente, die aus ihrem Beruf den schönsten der Welt machen. Hier: "Les glaneurs et la glaneuse"

Das Komplizierte ganz einfach erscheinen lassen, das ist ein Kennzeichen großer Filme. Aber natürlich auch: hinter dem Alleralltäglichsten die komplizierteren Strukturen zu erforschen. Wenn es dieses Jahr einen Film gab, der beides aufs Anschaulichste vorführte, dann war das Agnès Vardas wunderbarer Filmessay LES GLANEURS ET LA GLANEUSE, der auf Festivals in Cannes und Wien zu sehen war, aber natürlich keine Chancen auf eine Kinoauswertung hat – bei uns schon gar nicht. Der Ausgangspunkt für die Beobachtungen ist François Millets berühmtes Gemälde von den Kartoffelklauberinnen, hinter dem sie immer mehr anderer Bilder entdeckt, die von derselben Geste des Bückens und Auflesens erzählen. So entdeckt sie auf Schrottplätzen, Wochenmärkten, Obstplantagen und Kartoffelfeldern jede Menge Menschen, die sich von Resten und Abfällen ernähren. So entsteht das Bild einer Wegwerfgesellschaft, das im gleichen Maße politisch wie poetisch ist. Die eigentliche Aufklauberin ist natürlich die Regisseurin selbst, die mit ihrer kleinen Digitalkamera ihre Bilder quasi am Wegesrand aufliest – am schönsten dargestellt durch jenen optischen Trick, wenn sie aus der Windschutzscheibe ihres Autos herausfilmt und die vorüberziehenden Lastzüge mit ihrer Hand einzufangen scheint. Ein Zaubertrick, in dem das Kino ganz bei sich ist: naiv und listig, verspielt und geistreich zugleich. Da lacht das Herz.

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