09. Dezember 1998 | Süddeutsche Zeitung | Übersetzungen | Sexskandale

Clinton ist überall

Politiker in Asien lassen nichts aus, um ihre Gegner zu diskreditieren – aber Sex-Geschichten gehören in der Regel nicht dazu. Von mächtigen Männern erwartet man geradezu, daß sie Geliebte haben. Es stimmt zwar, daß ein japanischer Premierminister vor einigen Jahren zum Rücktritt gezwungen wurde, als seine Freundin Ärger machte, aber das lag nur daran, daß er ihr nicht genug Geld für ihre Diskretion zahlte – und nicht, daß man außerehelichen Sex als solchen für etwas Schlechtes gehalten hätte. Taiwan macht da keine Ausnahme. Chinesische Männer haben zwar nicht länger mehr als eine Ehefrau, aber Geliebte sind eher die Regel als die Ausnahme. Mächtige Männer halten sich gern Geliebte als Statussymbole, so wie man eine Mercedes-Flotte besitzt.
Warum wurde dann Sex zu so einem prominenten Thema bei den Wahlen letzte Woche? In Kaohsiung, einer Stadt im Süden des Landes, bezichtigte der Bürgermeisterkandidat der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) seinen Gegner, er habe seine außereheliche Affäre verschwiegen. Als Beweis diente ein Tonband, auf dem sich der Bürgermeister mit seiner Geliebten unterhielt. Man konnte hören, wie der Mann, ein KMT-Mitglied, flüsterte: „Ich liebe dich. “ Darauf folgte vehementes Leugnen. Das Tonband, so der Bürgermeister, sei eine Fälschung.

Sex, Lügen und Konfuzius

Wie also konnte dies plötzlich zum Streitpunkt werden? Die Opponenten des verliebten Bürgermeisters benutzen natürlich dieselben Argumente wie die Gegner von Präsident Clinton: Es gehe nicht um den Sex, sondern um die Lüge, um die Zuverlässigkeit also. Wenn der Bürgermeister bei einer Sache lüge, wie könne man ihm in anderen Dingen trauen . . . Wie immer klingen diese Argumente hohl. Tatsache bleibt, daß die mutmaßliche Untreue eines Mannes benutzt wurde, um ihn zu diskreditieren.

Ein paar Gründe liegen auf der Hand, warum es soweit kommen konnte. Sie haben zu tun mit der Verwestlichung des Lebens in Ostasien im Allgemeinen und in Taiwan im Besonderen. Aber sie wurzeln auch in traditionellen Verhaltensformen, die eher aus China stammen. Es ist kein Zufall, daß die Anschuldigungen von der Oppositionspartei kamen. Die Rebellen gegen die alte Ordnung hatten in China seit jeher einen Hang zum Moralisieren. In der konfuzianischen Tradition war es die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft, die Tugenden anzumahnen und den moralischen Verfall aufzuhalten. Das erklärt das puritanische Wesen des Maoismus, das – dem privaten Verhalten von Mao zum Trotz – viel weiter ging als alles in der Sowjetunion, selbst unter Stalin. Es erklärt auch, warum Lee Kuan Yew, der als sozialistischer Kämpfer gegen den Britischen Kolonialismus begonnen hatte, Singapur in eine sterile Insel moralischer Rechtschaffenheit verwandelte. Und es erklärt, warum Chwen Shui-bian, als Bürgermeister von Taipeh (und Mitglied der „fortschrittlichen“ DPP) die Bordelle und Massage-Salons schließen ließ, für die seine Stadt berühmt war.

Das westliche Element ist vor allem die allmähliche und noch längst nicht abgeschlossene Emanzipation der Frauen. Professionelle Frauengruppen spielen heute eine ebenso wichtige Rolle in der Oppositionspolitik Taiwans, wie sie es in Japan seit den vierziger Jahren getan haben. Und diese Gruppen stehen in vorderster Front der Kampagnen, die gegen das Laster kämpfen und „Familienwerte“ fördern wollen. Sie machen gemeinsame Sache mit den oppositionellen Parteien, weil Prostitution, das Halten von Geliebten und ähnliche Praktiken in Verbindung gebracht werden mit jener traditionellen Ordnung, die gestürzt werden soll. Eheliche Treue, sauberes Familienleben und ähnliche moralische Positionen werden in Verbindung gebracht mit Fortschritt, Modernität und eben auch mit dem Westen, der vorgeblich das Vorbild für all diese schönen Dinge abgibt.

Das scheint eine ziemlich überholte Sicht des Westens zu sein, aber was Sex angeht, diente Amerika sicherlich als Vorbild. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten öffentlich gezwungen werden kann, Rechenschaft über sein Sexualverhalten abzulegen, warum dann nicht auch der Bürgermeister von Kaohsiung? In der Tat stellt dies eine Art Amerikanisierung dar, aber es ist nur das Amerika von Kenneth Starr.

Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, warum Sex-Skandale in der Politik eine Rolle spielen, in Taiwan wie anderswo. Der Wahlkampf in Taiwan handelte verdächtig wenig von politischen oder ideologischen Themen. Die DPP redete ein wenig mehr über Wohlfahrt als die herrschende KTM, aber es fällt schwer, die beiden Parteien nach Begriffen wie rechts oder links zu unterscheiden. Hier gilt wie überall: Das Ende des Kalten Krieges und der Tod des Kommunismus (auch in China) haben die ideologischen Grenzen zerstört. Die einzige Frage, welche die taiwanesischen Parteien trennt, ist die Unabhängigkeit Taiwans, aber da es sich um ein heißes Eisen handelt, wird dieser Punkt von allen Kandidaten vermieden. Übrig bleibt: wer ist tugendhaft und wer nicht.

Dennoch bleibt die sexuelle Perspektive in Taiwan ambivalent: Nach wie vor kollidiert die traditionelle Akzeptanz für die Neigung der Mächtigen zu Geliebten mit der halb amerikanisierten, halb konfuzianischen Forderung nach öffentlichen Figuren von unzweifelhafter Tugend. In Kaohsiung dachten Viele, die Taktik der Opposition gegen den liebestollen Bürgermeister würde nach hinten losgehen. Tatsächlich gewann aber der Kandidat der DPP, ein Anwalt namens Frank Hsie. Es war ein Sieg für den Mann der Tugend. Unbestritten gilt er als guter Mann. Aber für jene, die Anteile an Bordellen oder anderen Orten sexueller Lustbarkeit besitzen, könnte es an der Zeit sein, an Verkauf zu denken.

Vom Niederländer Ian Buruma, der vor allem über Asien publiziert, sind in Deutschland „Erbschaft der Schuld“ und „Der Staub Gottes“ erschienen.
Aus dem Englischen von Michael Althen

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