21. Juni 2000 | Süddeutsche Zeitung | Übersetzungen | Rockstar gegen Rockfan

Die Rolle des Freiers

Rockstar gegen Rockfan – Wer bestimmt die Vermarktungsregeln?

Die Beziehung zwischen Pop-Künstlern und deren Fans hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Lars Ulrich, Schlagzeuger der Rockband Metallica, hat dem Büro des Internetdienstes Napster eine Liste mit etwa 320 000 mutmaßlichen Musikpiraten zukommen lassen. Metallica hat Klage gegen Napster eingereicht, weil sie es erlauben, Musikdateien im Internet zu vertreiben. Die Band will Piraterie unterbinden, ohne aber die Musikliebhaber zu vergraulen, die dort auf legale Weise Musik vertreiben. Aber indem sie die Namen von Benutzern gesammelt und gefordert haben, dass diese vom Dienst ausgeschlossen werden, ist die Band möglicherweise in die Privatsphäre eingedrungen. Dieser Vorstoß hat die Fans so erbost, dass sie nun Boykotte organisieren und Verbrennungen von Fanartikeln und Anti-Metallica-Websites und Message-Boards einrichten. Dies ist umso erstaunlicher, als Metallica lange Zeit mit ihren Auftritten Raubkopien unterstützten und ihre Fanclubs sogar den Austausch von Demo- und Live-Mitschnitten erleichterten.

Natürlich ist Geld der offensichtlichste Antrieb hinter diesem Konflikt. Ulrich und seine Freunde halten sich selbst für harte Arbeiter, die dafür eine angemessene Entlohnung wollen. Die wachsende Anti-Metallica-Fraktion wirft ihnen jedoch blinde Gier vor. Aber hinter dem finanziellen Aspekt verbirgt sich ein viel tieferer Konflikt: die Frage, wieviel Kontrolle ein Rockstar über seine Kunst, seine Zeit oder gar seine eigene Identität hat.

Rockmusik war schon immer ein rastloses Medium, und sein ungezügeltestes Element ist das Publikum. Ansteckende Fan-Energie präsentiert sich am sichtbarsten durch die Horden von Teenagern, die Musikern von Elvis bis ’N Sync nachstellen.

Dieser sympathische Enthusiasmus hat seine Schattenseiten. Rockmusik wurde schon oft mit heidnischen Ritualen verglichen; immer wieder kommt es zu dem Punkt, da die Anhänger von ihrem Idol Opfer verlangen, und wenn das Idol sich zu entziehen versucht, dann verfolgen sie ihn und reißen ihn in Stücke. Fans, die sich gegen den Star wenden, sind nach dem Bekunden der Rockmusiker der schlimmste Albtraum.

„Tommy” von The Who schilderte die Erschaffung und Zerstörung eines solchen Pop-Messias. Der Film „Nashville”, in dem Robert Altman die Aufmerksamkeit auf die Country-Musik legte, endet damit, dass der Star von einem Fan ermordet wird. Diese Fiktionen gewinnen durch die tragischen Parallelen zur Wirklichkeit an Gewicht. Die Befürchtungen des Songschreibers Pete Townshend wurden Realität, als 1979 elf Fans während eines chaotischen Konzerts von The Who in Cincinnati zu Tode gequetscht wurden. Zu trauriger Berühmtheit brachte es der durchgedrehte einzelne Fan, als Mark David Chapman 1980 John Lennon erschoss. Und ein Jahrzehnt später haben womöglich Kurt Cobains gemischte Gefühle von Schuld und Ablehnung gegenüber seinem Massenpublikum zu seinem Selbstmordentschluss beigetragen.

Metallica war bereits auf eine tödliche Auseinandersetzung mit einigen Fans vorbereitet. Die Band hatte seit 1996 Rückschläge hinnehmen müssen, als ihre Kurzhaarfrisuren und ein sichtlich saubererer Sound auf dem Album „Load” ihnen den Vorwurf einbrachten, sich verkauft zu haben. Verleumderische Anti-Metallica-Internetseiten nahmen den Napster-Konflikt vorweg, indem sie die Verachtung für Metallicas neue künstlerische Richtung zum Ausdruck brachten und die Band in die Defensive drängten.

Metallica sind darüber hinaus die Art von Band, bei der es gar nicht unwahrscheinlich ist, dass sie einen Kontrollverlust an die Fans befürchten: Sie sind Künstler nach Art der sechziger Jahre, denen so etwas wie Innerlichkeit und gar Ernsthaftigkeit innewohnt. Und ausgerechnet das, was die Fans an Metallica bewundern, ihre kompromisslose Kontrolle über ihre Musik, bringt sie nun gegen die Band auf.

Metallica bauten ihre Reputation auf, indem sie einen Maßstab an künstlerischer Reinheit setzten, der nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn die Musikbänder über Internet verbreitet werden. Das war mit der letzten Single „I Disappear” geschehen, die sofort eine Klage der Band nach sich zog. Dr. Dre, der zweitgrößte Gegner von Napster, hat ein ähnlicch sorgfältigees, reines Hip-Hop-Werk produziert. Man muss nur mal diese Musiker mit den stärksten Befürwortern von Napster in Kontrast setzen. Fred Durst von Limp Bizkit, die demnächst eine von Napster gesponsorte Sommer-Tour beginnen, widmet sich seinen unternehmerischen Nebentätigkeiten genau so leidenschafltich wie seiner Musik. Chuck D, der Gründer von Public Enemy, bewertet gesellschaftliche Reichweite und politische Wirkung genau so hoch wie die musikalischen Qualitäten.

Zugunsten der Zukunft der MP3-Technologie sind diese Musiker bereit, das Albumformat zu opfern, das beste Mittel künstlerischer Kontrolle, das Musikern je zur Verfügung stand. Vor der Album-Ära der Sechziger mussten Popstars ihre Fans mit jeder neuen Single aufs Neue erobern. Das Aufkommen der Alben verlagerte die Macht zu den Stars, die ihren eigenen Impulsen nachgeben konnten durch Cover-Gestaltung oder die Songabfolge, in die sie die potenziellen Hits eines Albums einbetten konnten.

Der wachsende Einfluss der Konzerne hat diese Art der Kontrolle bereits vermindert; heute sind Platten zu oft durch Kompromisse, welche die Musiker mit ihren Firmen eingehen müssen, verdorben. Aber die Online-Technologie macht Managern und Künstlern gleichermaßen Angst, weil sie diese „wilden Fans” bevorzugt. Der Künstler muss wieder zurück in seine Rolle des Freiers, der mit einem Geschenk in der Hand an die Tür des Publikums klopft. Und weil alles – Proben, Demo-Bänder, Auftritte bei Conan O’Brien – heruntergeladen, vertrieben und mit täglich neuer Software sogar remixed werden kann, weiß er noch nicht einmal, was sich in seiner Geschenkschachtel befindet.

Metallicas Aktion gegen Napster ähnelt dem wütenden Schubser, den der Rockstar dem unglücklichen hundertsten Fan verpasst, der nach ein paar freundlichen Worten, einen Kuss oder ein Autogramm verlangt. Der Künstler mag wohl brüllen: „Auf mich kommt es an!” Aber wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Fans wichtiger sind.
ANN POWERS

Aus dem Englischen von Michael Althen

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