30. September 2000 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Philippe Noiret

Der Schlaf des Gerechten

Der französische Schauspieler Philippe Noiret wird siebzig und beweist: Auch mit Phlegma kann man es im Leben zu was bringen

Das Schöne an der Karriere von Philippe Noiret ist, dass sie Trost in allen Lebenslagen bereit hält. Nie lässt er den Zuschauer seine Unzulänglichkeit spüren, so wie es all die anderen Kinohelden tun. Denn die wiegen uns stets in der Illusion, wir könnten sein wie sie, um uns nach Filmende mit diesem Trugschluss um so unbarmherziger auf die Nase fallen zu lassen. Bei Noiret galt hingegen: Wir können sein wie er, wir sind sogar wie er – und wenn man also sein will wie er, dann ist man sozusagen mit sich selbst versöhnt. Was gibt es Tröstlicheres?

Natürlich können wir dann doch nicht sein wie er. Die sanfte Radikalität, die ihn in seinen frühen Filmen auszeichnete, dieser schleichende Irrwitz, mit dem er der Welt seine Sicht der Dinge und sein ganz eigenes Tempo aufzwingt – dafür braucht man dann doch das entsprechende Gemüt. Als schuftender Bauer in ALEXANDER, DER LEBENSKÜNSTLER nach dem Tod der Frau zu beschließen, endlich nichts mehr zu tun und buchstäblich das Bett nicht mehr zu verlassen, ist nicht nur die süßeste Utopie, sondern auch ein revolutionärer Akt, der das Dorf gehörig verärgert. Aber Noiret geht mit schlechtem Beispiel voran und bringt die Verhältnisse zum tanzen. Aber wie das bei Revolutionen oft so ist: Irgendwann hat es sich ausgetanzt, und die alten Verhältnisse kehren wieder. Die neue Lebensgefährtin erweist sich als geschäftstüchtig – und als genauso schweißtreibend wie die verstorbene Gattin. Erst vor dem Traualtar stellt sich heraus, dass Noiret doch etwas dazugelernt hat.

Der Lebenskünstler war aber eine prägende Rolle: Am Eindrücklichsten war Noiret stets als ewig verzogenes, nie alt gewordenes Kind, und seine Version vom Savoir-vivre war, sich dem Erwachsenwerden einfach zu verweigern. Man muss ihm nur mal zusehen, wie er sich in DAS GROSSE FRESSEN von seiner Mutter umsorgen lässt und wie er wie ein Kind schmollt, wenn seine Fresskumpane nicht so wollen wie er. Oder wie er sich als Onkel Gabriel in Louis Malles ZAZIE aufführt. Die andere Seite dieser süßen Unschuld war natürlich der dekadente Bourgeois, der ohnehin nichts anderes als ein Muttersöhnchen ist.

Aber auch aus ewigen Kindern werden irgendwann Männer – es dauert nur eben etwas länger. Mittlerweile strahlt er mit seiner ganzen Leibesfülle eine unglaublich sympathische Autorität aus, der auch nichts Weiches mehr innewohnt. Natürlich ist er nach wie vor ein Meister des Arrangements, hat das geradezu zur Kunst erhoben, sich mit dem Leben zu arrangieren: am charmantesten in DIE BESTECHLICHEN und GAUNER GEGENGAUNER, aber auch in seiner Lieblingsrolle in Taverniers DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES, wo er im Krieg der Vermisstenstelle vorsteht. Oder als Vorführer in CINEMA PRADISO oder als Showmaster in Chabrols MASKEN. Noirets Gesicht hat Kanten bekommen, sein Blick ist härter und illusionsloser geworden – selbst das wirkt bei ihm tröstlich. Und wenn es jemanden gibt, bei dem man sicher sein kann, dass er seinen 70. Geburtstag gebührend zu feiern weiß, dann ist er das.

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