11. Februar 2000 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Jeanne Moreau

All das Neigen von Herzen zu Herzen

Die Frau mit dem gewissen Zug um den Mund: Jeanne Moreau bekommt einen Goldenen Bären

Keiner versteht Französinnen besser als die Franzosen: So schrieb François Truffaut, Jeanne Moreau sei eine Frau, bei der man nicht an einen Flirt denke, sondern gleich an die Liebe. Da hat er zweifellos recht. Aber es sind bestimmt keine glücklichen Liebesgeschichten, die man sich mit ihr ausmalt. Leidenschaftlich, sicherlich auch eine Zeit lang glücklich, aber stets verdammt kompliziert und am Ende fast unfroh, in beiderseitigem Schweigen erstickt. Das spricht nicht gegen Jeanne Moreau. Im Gegenteil. Dass sie so etwas Privates wie die Liebe auf diese Weise vorstellbar macht, zeichnet sie vor den meisten anderen Schauspielerinnen aus. Für einen Flirt reicht die Vorstellungskraft bei den meisten Kinoschönheiten aus, aber die Liebe ist selbst in der Phantasie nochmal ganz etwas anderes. Das nennt man dann Präsenz, wenn die flüchtige Existenz des Filmwesens von der Leinwand überzuschwappen scheint ins Leben des Betrachters. Man setzt sich sozusagen in Beziehung zu ihr – das ist schon das halbe Geheimnis der Magie von Jeanne Moreau.

Was die Moreau darüber hinaus so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass ihre Anziehungskraft nicht einer Ebenmäßigkeit entspringt. Wenn Catherine Deneuve für schneeweiße Perfektion steht, dann ist es bei der Moreau eher das Gegenteil. Ihre Schönheit entspringt nicht irgendwelchen Idealen, sondern einer Ausstrahlung, die jenseits der üblichen äußerlichen Tugenden liegt. Natürlich ist sie schön, aber vor allem, weil wir gelernt haben, sie so zu lieben, wie sie ist. Sie hat zweifellos wunderschöne große Augen, aber sie wirken stets umringt von nächtlicher Unruhe, oder wenn man noch weiter gehen will: von emotionalen Mangelerscheinungen. Aus denselben Gründen scheinen die Winkel ihres herrlich großzügigen Mundes nach unten zu zeigen, oft ein wenig missvergnügt, stets an sich selbst leidend, aus gutem Grund an den Männern zweifelnd. Aber was bedeuten schon ein großer Mund und große Augen, wenn die Qualitäten dieser Frau so sichtlich nicht allein in der Form, sondern eher im Inhalt liegen…

Jenseits aller Maße

Vielleicht können nur die Franzosen einen Star wie die Moreau erfinden,weil sie auf wundersame Art die Liebe zur Kunstform erhoben haben. Und die lebt nicht wie andernorts von vordergründigen Attributen wie Ebenmaß und Oberweite, sondern gerade von ihrer Alltäglichkeit. Dass man die Leidenschaft, die Hingabe und Unanständigkeit dort entdeckt, wo sie keiner vermutet, das macht den Reiz dieser Liebe aus. Von dieser so schlichten wie aufregenden Wahrheit lebt Jeanne Moreaus Ausstrahlung – so wie auf ihre Weise die von Arletty oder von der Piaf. Vielleicht ist das ganze Geheimnis der Moreau aber auch nur, dass man sie lachen sehen möchte. Dass man, wenn sie von Unruhe und Angst getrieben in FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT zur Musik von Miles Davis die Boulevards auf- und abläuft, ihr etwas Freundliches sagen will, ihr einen Witz erzählen möchte, um sie aus ihrer Depression zu erlösen. Sie erweckt stets den Eindruck, man könne sie vor sich selbst retten, vor jenen Zweifeln, die ihr einst eingepflanzt wurden und die jetzt immer wieder grundlos an ihr nagen. Da geht sie dahin im nächtlichen Regen, als sei sie auf der Suche nach Liebe, Trost oder sonst was, dabei ist es ganz konkret der verspätete Geliebte, der nach dem Mord an ihrem Ehemann im Fahrstuhl feststeckt – und es wirkt doch schon so, als sei ihrem Mund das Unglück, das ihr letztlich widerfahren wird, schon eingeschrieben.

Später sieht man dann die Fotos aus glücklichen Zeiten, da ist sie so strahlend und unwiderstehlich, dass man sofort wieder weiß, warum Männer für sie buchstäblich zu allem bereit sind, auch zu einem Mord des Gatten. Das ist nur eine Geschichte aus fast hundert Filmen, aber sie erzählt wie so viele nicht vom Glück, sondern von der Sehnsucht, nicht von der Erfüllung, sondern von der Tristesse, die darauf zwangsläufig folgt.

Eine Frau wie sie kann man sich kaum als junges Mädchen vorstellen. Die Unbeschwertheit der Jugend war gewiss nie ihre Sache; von den Verwicklungen der Leidenschaft hat sie wahrscheinlich früher erfahren, als ihr lieb gewesen sein kann. Und tatsächlich gibt es ein Foto von Jeanne Moreau im Alter von zwölf Jahren, das auf fast schon grausame Weise einen kleinen Mädchenkörper zeigt, dem das Gesicht einer Frau aufgepflanzt scheint. Dem Mädchen waren bereits mit zwölf die Züge eingeschrieben, die sich sonst erst in der emotionalen Reife herausbilden.

Wer weiß schon, was die Kleine in ihrer Kindheit alles gesehen hat, als sie in den Dreißigern am Montmartre aufwuchs, wo ihr Vater eine Kneipe betrieb und die englische Mutter ihrer verlorenen Karriere als Revue-Tänzerin nachtrauerte. Eine kleine Göre mit aufgeschlagenen Knien inmitten des Völkchens um die Place Pigalle, am Tresen die Männer mit der Gauloise im Mundwinkel und die Frauen mit ewig verschmiertem Make-Up und verrutschtem Décolleté…

Aber das ist auch schon wieder ein Film, den man sich da vorstellt, die Art poetischer Realismus, der im Kino so gut und in der Wirklichkeit so trübsinnig aussieht – so leicht ist Jeanne Moreau dann auch wieder nicht zu fassen. Die Geheimnisse einer Frau sind dann doch zu vielfältig, um auf die Erfahrungen eines Mädchens reduziert werden zu können. Die Rolle im FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, die im Grunde nur aus sehnsüchtigem, quälendem Warten bestand, brannte sich den Zuschauern ins Gedächtnis ein; berühmt wurde sie aber durch die Rolle der Ehebrecherin in Louis Malles nächstem Film DIE LIEBENDEN, der 1958 die Gemüter so erregte, dass in Deutschland zwei Szenen, in denen Moreau ihre Töchter umarmt, der Zensur zum Opfer fielen – als sei der Betrug einer Ehefrau gerade noch erträglich, aber der einer Mutter unzumutbar.

Fremder in der Nacht

Fortan entzündeten sich jedenfalls die Phantasien der allergrößten Regisseure an ihr: 1960, DIE NACHT von Antonioni, 1961, JULES UN JIM von Truffaut, 1962, DER PROZESS von Orson Welles, 1963, TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE von Buñuel – eine beachtliche Serie von Filmen, die Geschichte machten. Es folgten Losey, Demy, Kazan, Duras, Téchiné, Fassbinder, Wenders, Angelopoulos, um nur die Größten zu nennen. Und stets schien ihr Rollenfach die Frau schlechthin zu sein. Sie braucht keine großen Sätze, keine ausgefallenen Rollen, keine darstellerischen Ticks, um auf sich aufmerksam zu machen. Es genügt eine Kamera, die ihr einfach nur zusieht – und vor allem zuhört, wie ihre Stimme die Emotionen stets so herunterschraubt, dass nur noch ein leises, aber verräterisches Vibrieren übrig ist.

Ob sie mit den Männern macht, was sie will, oder ihr von ihnen übel mitgespielt wird, macht keinen Unterschied – ihre Eigenheiten setzten sich jedesmal gegen die Wendungen des Geschicks durch. Ob sie in lA NOTTE an ihrer erloschenen Liebe zu Mastroianni verzweifelt oder in JULES UND JIM zwei Männer zur Verzweiflung treibt – man leidet mit ihr, hofft für sie, bangt um sie. Und sie hat unsere Erwartungen nicht enttäuscht: Sie ist dem Alter ungeschminkt wie kaum eine andere entgegengetreten und hat auch nie verstanden, warum ihre Kollegin Simone Signoret so darunter gelitten hat.

„Eine Frau ist eine Frau” scheint sie auch heute jenseits der Siebzig noch zu sagen – und sieht mit ihrer Mähne wie eine alte Löwin aus, die immer noch beißen und kratzen kann, wenn es darauf ankommt. „Die Frau, die immer erst im Morgengrauen nach Hause kommt” hat die Filmkritikerin Brigitte Desalm mal ein Porträt der Moreau überschrieben – man ist geneigt, noch weiter zu gehen: Jeanne Moreau ist die Frau, die das Morgengrauen im Herzen trägt.

Am Ende lässt sich vielleicht doch alles zusammen fassen in einem Satz von Goethe, der nicht nur das Motto von JULES UND JIM war, sondern auch als Losung für Jeanne Moreaus Karriere durchgehen kann: „All das Neigen von Herzen zu Herzen, ach wie so eigen, bereitet das Schmerzen. ”

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