Der Weg zwischen Mund und Gehirn ist zu weit
Aus der Korrespondenz zwischen der Filmkritikerin Frieda Grafe und ihrem Lieblingsregisseur Josef von Sternberg: "Ich werde doch wohl wissen, was und wie Schönheit ist".
Die Filmkritikerin und ihr Lieblingsregisseur, die Frau, die das Schreiben über Film auf ein anderes Niveau gehoben hat, und der Mann, der Marlene Dietrich entdeckt hat: 1966 schrieb die im vergangenen Jahr verstorbene, damals 32 Jahre alte Frieda Grafe für die von ihrem Mann Enno Patalas redigierte Zeitschrift Filmkritik einen Aufsatz über den fast vierzig Jahre älteren Josef von Sternberg. Im Oktober des folgenden Jahres kam es zu einer Begegnung in München; zehn Monate vor Sternbergs Tod am 22. Dezember 1969 zu einer weiteren. Ihr ungewöhnlicher Briefwechsel zeigt die beiden entflammt zwischen Zuneigung und Bewunderung, ein fast zärtliches Ringen um die rechten Worte zwischen Distanz und Nähe. Die Auswahl der Briefe entstammt dem vierten Band von Frieda Grafes ausgewählten Schriften, „Aus dem Off – Zum Kino in den Sechzigern“ (Verlag Brinkmann & Bose), der dem ersten Jahrzehnt ihrer Schreibtätigkeit gewidmet ist. Das Recht zum Abdruck der Briefe ihres Mannes hat Meri von Sternberg dem Herausgeber Enno Patalas für die auf zwölf Bände angelegte Reihe geschenkt.
Los Angeles, 03.11.1967.
Enno & Frieda – In Eile schicke ich einiges, das ich versprochen habe. Bitte, schreibt mir doch. Die Zeit, die ich mit Euch verbracht habe, war wunderschön. Das Essen, das Frieda machte – war ein Traum. Übrigens bin ich verliebt in Frieda. Schade, daß ich so weit weg bin.
Jo.
München, 08.11.1967.
Schon mit der Anrede beginnen die Schwierigkeiten. Alles ging so schnell: Ihr Besuch, Ihre Abreise. Solange Sie hier waren, habe ich fraglos alles hingenommen. Jetzt hab‘ ich Angst, Sie mit unzulässiger Vertraulichkeit zu kränken. Ich habe mir immer wieder alle Fotos von Ihnen, die wir haben, angesehen. Sie sind sehr abweisend, daß ich manchmal denke, es müßte irgendwo ein Irrtum sein.
Am Dienstag nach Ihrer Abreise sind wir ins Stadtmuseum gegangen, um MOROCCO wieder zu sehen. Ich bin die Treppen hinaufgelaufen, weil ich hoffte, Ihr Kopf würde noch oben im Foyer stehen. Er war nicht mehr da, und das war, als seien Sie ein zweites Mal fortgefahren.
Ich hätte besser auf der Hut sein sollen, mich mehr in acht nehmen. Die Aufregung, in die mich Ihre Filme gestürzt haben, als ich sie im vergangenen Jahr in Mannheim zum ersten Mal in so großer Zahl sah, hätte mir Warnung genug sein sollen.
MOROCCO ist ein hinreißender Film. Der Schluß ist sublim. Ich glaube, ich habe niemals einen Ausdruck dafür gekannt, der bündiger bezeichnet, daß désir und Zivilisation nicht zu vereinen sind. Der Enno und der Igor lassen Sie grüßen.
F.
München, 10.11.1967.
Das Schlimmste ist, daß Sie mich in ein totales Zeitchaos gestürzt haben. Sie haben vor nun fast vierzig Jahren Dinge empfunden, gedacht und erfunden, die für mich wie von heute sind. Manchmal kommt mir die Zeit wie aufgehoben vor und dann wieder so schwer, wie ich sie nie vorher empfunden habe; als ob ich zum ersten Mal spüren müßte, was es bedeutet, daß sie wirklich vergeht.
Sie loben mein Essen. Wenn Jana Brejchova sich in Locarno vor Ihnen auf die regennasse Straße geworfen hat, wer weiß, vielleicht werde ich mich noch um eine Stellung als Köchin in Kalifornien bemühen.
F.
Los Angeles, 13.11.1967.
Meine schöne Frieda – Lange hab‘ ich es mir auch überlegt, wie ich Sie anrede. Mir kommt es vor, als hätten wir beide dasselbe erlebt.
Ihre Briefe haben mir eine unbändige Freude gemacht. Noch nie hatte ich das Gefühl, daß mich ein Mensch so versteht. Das „Zeitchaos“, in das Sie sich gestürzt fühlen, das existiert nicht. Die Zeit ist ein Begriff, der nur mit der Uhr zu tun hat.
Außerdem genügen Worte nicht. Der Austausch von Gedanken bedeutet wenig. Der Weg zwischen Mund und Gehirn ist zu weit.
Schreibe oft und viel, wenn Du Lust hast. Grüße Enno und sage ihm, daß ich ein Teil der Familie bin.
Jo.
München, 21.11.1967.
Jo, schreiben kann ich es, aber ob ich es sagen könnte? Der Weg vom Gehirn zum Mund…
Ich bin nicht schön, Sie müssen sich irren; im Augenblick schon gar nicht. Ich bin bleich mit tiefen Schatten unter den Augen und schreibe Ihnen diesen Brief aus dem Bett. Igor hat mir Kummer gemacht. Er hatte eine sehr bösartige Grippe, die die Gehirnhäute anzugreifen drohte. Als er über den Berg war, konnte ich nicht mehr. Es waren etwas viel Aufregungen die letzte Zeit, auch ein wenig Kapitulation vor dem langen Winter, der uns hier bevorsteht und Föhn – Sie werden es nicht glauben!
Im Gegensatz zu Ihnen setz‘ ich etwas mehr Vertrauen in die Sprache – nicht die Wörter. Ich hab den Sinn Ihrer Sätze zu verstehen versucht, als wären es Gesten.
Frieda.
Los Angeles, 25.11.1967.
Dein jeweiliger Begriff von der eigenen Schönheit ist zu bestreiten. Ich werde doch wohl wissen, was und wie Schönheit ist, mit oder ohne tiefe Schatten unter den Augen oder sonstwo. Es gehört so manches dazu, um schön zu wirken, und Du hast zu viel, mehr als genug. Und da Du mir so freigiebig viel davon gibst, kann ich nur für diese so seltene Gabe danken. Obwohl ich Dich so wenig sah, der wunderbare Geist Deines Gehirns war für mich nicht fremd. Die Lebendigkeit Deines Körpers, von dem Du sprichst, muß ich leider in die Reihe meiner unerfüllten Vorstellungen einreihen.
Jo.
Mülheim/Möhne, 21.12.1967.
Schon nachdem ich den ersten Deiner Filme gesehen hatte, wußte ich, daß Du Dinge verstehst und ausdrücken kannst, denen man mit diskursiver Intelligenz nicht beikommen kann. Alle weiteren Filme, Dein Buch und Du selbst – während der kürzesten Augenblicke in Mannheim, Frankfurt und München – bewiesen mir, daß ich mich nicht geirrt hatte.
Frieda.
Los Angeles, Ende 1967, Anfang 1968.
Du fragst, was ich mache. Ich mache nichts, habe eine riesige Korrespondenz, lese Kulturgeschichten (hab‘ eine ziemlich große Bibliothek), sehe viele Filme, bin tätig in meiner Directors Guild, male manchmal, sehe Freunde, unterrichte nicht, aber hie und da halte ich Vorträge an Universitäten, gehe morgen zum Arzt und laß mich untersuchen, schau mir meine Sammlung von chinesischen Bronzen und Negerskulpturen, australischen und Neu-Guinea-Sachen an, bewundere die indischen und Tantra-Götter, die bei mir stehen und gähne oft.
Ich möchte etwas tun, weiß aber nicht, was. Bis ich wieder einen Brief von Dir bekomme, muß das genügen. Grüße Enno und Igor von mir und vergiß mich nicht.
Jo.
München, Mitte Januar 1968.
Ich versuche, mich zu erinnern, in welchen Mythologien es Darstellungen ständig gähnender Götter gibt, die unendlich gelangweilt auf das kleinliche Treiben der Menschen zu ihren Füßen schauen. Dir steht das, finde ich, sehr gut.
Frieda.
München, 18.01.1968.
Mein großer Meister, ganz im Ernst! – Du fliegst also Tausende von Kilometern durch Sturm und Kälte, um an einer Universität zu sprechen. Worüber hast Du da gesprochen? Gibt es Manuskripte von diesen Vorträgen, die ich auch einmal lesen könnte?
Ich lerne übrigens langsam, Deine Briefe zu lesen, wie ich Deine Filme anschaue; nicht nur, was dasteht, ist wichtig, sondern auch die Farbe des Papiers, ob mit der Schreibmaschine geschrieben oder mit der Hand, ob Dein eingestempelter Name oben steht oder unten. Das ist sicher ein frommer Selbstbetrug, aber laß mir die Illusion, daß auch das Zeichen sind, die etwas bedeuten.
F.
Los Angeles, 22.01.1968.
Ich spreche an vielen Universitäten, aber hab‘ selbst keine Ahnung, worüber ich rede. Ich bereite nichts vor und richte meine „Ansprache“ nach der Mentalität der Zuhörer. Und die vielen Fragen, die an mich gestellt werden, sind alle persönlich und werden mit Humor beantwortet.
Und was Pläne betrifft, so hab‘ ich keine und muß dabei feststellen, daß ich nie im Leben so was hatte.
Jo.
München, 23.01.1968.
Ich fahre übermorgen nach Wien. Das Filmmuseum dort hat eine Mizoguchi-Retrospektive arrangiert, und der Enno möchte gern, daß ich einen größeren Aufsatz darüber schreibe, Natürlich fahr‘ ich gern, um die Filme zu sehen. Außer SANSHO DAYU und UGETSU hab ich bisher nie etwas von ihm gesehen. Nur hab ich Angst vor dem Unternehmen, weil die Traditionen, aus denen seine Filme kommen, mir völlig fremd sind. Weder kenn‘ ich das Land, noch habe ich je Japaner näher gekannt.
Mein Filmprogramm wird sehr gedrängt voll sein, aber wenn mir die Zeit bleibt, werde ich Dich in Wien suchen gehen. Ich bin nur ein einziges Mal dort gewesen, lange bevor ich Dich kannte, als Studentin im ersten Semester von München aus. Ich habe seltsame Erinnerungen daran, die sich dann später vermischt haben mit den Beschreibungen aus Deinem Buch. Ich bin gespannt, was ich wiederfinden werde oder besser: was ich finden werde.
Frieda.
Los Angeles, 26.01.1968.
Du darfst den japanischen Maßstab nicht beachten. Obwohl ich eine ungeheure Menge von japanischen Kunstwerken habe, gebrauche ich diese Tatsache nie, um Filme zu beurteilen. Filmkunst steht allein. Es würde Dir nicht schaden, etwas über Japans Kunstschätze zu wissen, aber es würde Dir auch nicht nützen. Das einzige, was mir je genützt hat, ist eine Holzskulptur, die eine schöne Legende erzählt: Natur umfaßt alles, und man muß Zeit abwarten. Um Frucht zu tragen, brauchen Pfirsiche drei Jahre, Kastanien auch drei und die Dattelpflaume acht Jahre. So spricht Dharuma.
Wien ist nicht mehr. Was Du dort suchst, wirst Du nicht finden.
Jo.
München, 08.02.1968.
Ich habe die Sätze Deiner Legende auswendig gelernt. Ich werde versuchen, sie auch zu verstehen.
Natürlich ist Wien nicht mehr das Wien, das Du kanntest. Aber ich habe doch schon ein wenig gefunden von dem, was ich suchte. Du unterschätzt meine Hartnäckigkeit und mein Vorstellungsvermögen. Es ist schlimm genug, daß ich „Deine“ Zeit nicht gekannt habe, ich habe sie aber ein wenig zu begreifen begonnen mit Deinen Filmen. Du wirst mir sagen, daß ich sie mir falsch vorstelle. Doch Du solltest mir armen Nachgeborenen nicht gleich immer allen Mut nehmen. Du rätst mir bei Filmen, ich sollte mich auf meine Sensibilität verlassen, weshalb nicht auch vor Wien?
Frieda.
München, 06.03.1968.
Glaubst Du eigentlich wirklich, daß Deine Schwierigkeiten, wenn Du mir schreibst, von Deinem Deutsch herrühren? Zum einen ist Dein Deutsch nicht armselig, und zum anderen weißt Du doch, daß ich ohne Mühe Englisch lese. Ich glaube, es geht da um ganz etwas anderes. Liegt es nicht vielmehr daran, daß Du gewohnt bist, in Bildern und Bewegung sagen zu können, was Dir wichtig ist; daß Du letztlich nie angewiesen warst auf diesen Bastard aus Sprache und Schrift? Das, was Du schreibst über das Unwesentliche der Worte, kenne ich nur zu gut aus meiner täglichen Arbeit. Auch die Zeit gewöhnt einen nicht daran. Die Angst, ständig viel zuviel zu sagen und zu wenig zugleich, die verläßt mich nie, wenn ich schreibe, und der Umstand, daß ich noch über die Dinge reden und schreiben muß, die andere erfunden haben, daß ich nicht einfach nur meine Texte schreibe, potenziert das Dilemma noch um ein Vielfaches.
F.
Los Angeles, 13.03.1968.
Übrigens, da Du Schnitzler liest, muß ich dazu bemerken, daß in meinem Büro eine mir gewidmete Fotografie von ihm steht. Das Datum ist der 24. Mai 1921. Also fast siebenundvierzig Jahre. Er war der erste, der mir künstlerischen Mut gab. Ich sprach mit ihm stundenlang und hörte plötzlich auf und sagte, daß ich gekommen war, um ihn anzuhören. Aber er sagte, daß er noch nie ein so gebildetes und interessantes Gespräch sich angehört hätte. Ich sprach sehr viel und dann selten wieder.
Du schreibst, daß Du Angst hast, zu viel oder zu wenig zu schreiben. Behalte das Angstgefühl. Nur der Irrsinnige hat keine Angst. Vielleicht habe ich zu wenig Angst. Ich habe keine unbeleuchteten Stellen.
Jo.
Los Angeles, 11.04.1968.
Wien war für mich Schnitzler, Schiele, Klimt und Kokoschka. Und Tauber, mit dem ich im späteren Wien herumgesaust bin. Dann gab es noch eine Finnin, Rautowara. Sie sank bewußtlos in den Schnee, als mein Zug mich damals wegzog. Und der Leiter der Oper schrieb für mich Musik, und zum Essen im Bristol waren meine Mittagsgäste Lehar und Oskar Straus und Tauber. Und am späten Abend haben Tauber und ich Würstel beim Würstel-Lenz verzehrt. Aber dieses Wien ist verschwunden.
Jo.
München, 23.04.1968.
Die Geschichte von der Finnin in Wien hat mir gefallen. Du schaffst es offensichtlich nicht nur im Film, alles dahin zu bringen, wohin es nach Deiner Konzeption gehört. Du scheinst sogar die Realität so zu infizieren, daß sie in Deinem Stil reagiert.
Los Angeles, 25.08.1968.
Jetzt ist es fast ein Jahr her, als ich Dein strahlendes Wesen erlebte. Aber noch kein Bild. Deine Entwicklung als Frau war für mich eine Erscheinung aus einer Zeit, die mit Gefühl und Verstand eine Ebene erreicht hatte, die nichts mit dem Wirrwarr des heutigen Daseins zu tun hat. Es ist für mich nicht leicht, so etwas ins Schriftliche zu übersetzen.
Jo.
München, 24.09.1968.
Wenn Du nicht kommst, muß ich mich halt an Deine Filme halten. Wie fändest Du es, wenn ich Dich eines Tages über Deine Filme vergessen würde? Heute morgen habe ich gelesen, daß Lautréamont sich als Sohn seiner Werke fühlte. In dem Sinn werde ich Dich dann doch wohl kaum vergessen können.
Frieda.
Los Angeles, 09.09.1969.
Geflügelte Worte. Kaum ist Dein letzter Brief da, schon kommt der andere. Du fragst mich, warum ich nicht länger schreibe. Wenn Du Dich meiner Anwesenheit erinnerst, hab ich ja nie viel zu sagen gehabt. Du hast ja Arbeit, ich dagegen habe nur Hausarrest. Momentan plagen mich die Bäume meiner Nachbarn. Sie sollten eine Hecke sein, aber sie sind so hoch gewachsen, daß die ganze Aussicht, die sehr schön wäre, weg ist. Von den Fenstern sieht man gewöhnlich eine italienische Landschaft mit einer schönen Kirche, aber jetzt ist da nur schmutziges Laub. Wenn das nicht alles wegkommt, dann muß ich selbst mit Säge, Schere und Besen daran. Aber Du kannst Dir nicht vorstellen, was das an körperlicher Arbeit bedeutet. Sonst hocke ich in meinem Arbeitszimmer und nehme übel. Nicht ganz, da das Zimmer viel Zerstreuung bietet. Alte afrikanische Skulpturen, australische Speere, Bumerang und Figuren, algerische Pistolen und Ziegel, Tausende Bücher und Dein Rops, mein Koran, die Fotoapparate, der Belling-Schädel, große und kleine indische Antiquitäten, japanische Memorabilia, Berufsauszeichnungen, ein Zille-Aquarell, Briefmarken, Gegenstände, Karikaturen, die eingerahmte Postkarte vom Blauen Engel, die mir jemand nach vierzig Jahren gegeben hat, eine Bronze-Skulptur von mir, ein Schachspiel, das ich von Charrieu im Acapulco-Flug gewonnen habe, Wörterbücher jeder Sprache, Elfenbein-Gegenstände, ein Schlachtschiff-Radio, Machete und Messer aller Länder und Tausender Allerlei. Ein Foto von Schnitzler, der es mir am 24-5-21 gewidmet hat, hätt‘ ich beinahe vergessen.
Jo.
Los Angeles, 08.11.1969.
Der Winter ist schon da. Der Regen hat schon begonnen. Ist es kalt bei Euch? Deine Zeilen fehlen mir. Leider nehmen meine Brustbeschwerden zu, und mein Schlaf wird unruhig. Sonst ist wenig Neues hier. Die Tage gehen vorbei, als wenn sie gar nicht existierten.
Hätt‘ ich Dir irgend etwas zu erzählen, würde ich es Dir gerne mitteilen, aber meine Schreibmaschine holpert. Ich umarme Euch.
Jo