28. August 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Porträt | Frieda Grafe

Die Hartnäckigkeit gewisser Geister

Was die Filmkritik immer noch von Frieda Grafe lernen kann

Bei einer Reise nach Portugal stießen wir im März auf dem Lissabonner Flughafen auf ein Programm der Cinemateca Portuguesa, die unter einem Foto von James Dean Retrospektiven zu Jacques Tourneur, dem Musical und Jeanne d’Arc ankündigte sowie eine Reihe unter dem Titel „A senhora Muir e outros fantasmas“ – mit dem Zusatz: In memoriam Frieda Grafe. Das war schon eine ergreifende Erfahrung, hier am äußersten Ende des Kontinents ein halbes Jahr nach ihrem Tod eine Frau gewürdigt zu sehen, deren Name selbst bei uns eher nur den Eingeweihten bekannt ist. Da war im Programm die Rede vom „nome quase desconhecido em Portugal“, der aber „einen zentralen Platz im theoretischen und kritischen Denken über das Kino seit den Sechzigern“ einnehme. Irgendwie hatte dieser Gedanke etwas Tröstliches, daß es so etwas wie eine Internationale der Filmliebhaber gibt, die nicht vergißt. Und so war auch ihr Mann Enno Patalas angekündigt, um im Sala Dr. Félix Ribeiro den Eröffnungsfilm der Reihe zu präsentieren: LA TENDRE ENNEMIE von Max Ophüls. Es gab im Frühjahr zwar auch hierzulande ein paar Gedenkveranstaltungen, aber dies war eine ganze Reihe – in Portugal. Manchmal sieht man die Dinge aus der Ferne schärfer.

Frieda Grafe hatte sich aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und nur noch gelegentlich Aufsätze publiziert oder Vorträge gehalten. Dadurch ist sie aus dem Blick geraten, wenn auch nie aus dem Sinn gegangen. Ihr Tod im vergangenen Jahr hat der Filmkritikerin – das soll gar nicht despektierlich klingen – eine neue Präsenz verliehen. Natürlich war sie immer präsent auf dem Grunde unseres Denkens, so wie man auch die großen Klassiker ein Leben lang nicht vergißt, aber die Abwesenheit ihrer Stimme im aktuellen Schreiben über Filme hat vielleicht in Vergessenheit geraten lassen, wieviel sie immer noch zu sagen hatte. Seit jedoch der Berliner Verlag Brinkmann & Bose begonnen hat, ihre Schriften zu publizieren, kann man nochmal Revue passieren lassen, was mit ihr verschwunden ist aus der deutschen Filmkritik. Zwei Bände liegen bislang vor, „Filmfarben“ und „Licht aus Berlin“, acht weitere sollen folgen, als nächstes die Texte zur Nouvelle vague und eine Wiederauflage der Sammlung „Im Off“. Wer hierzulande über Film schreiben will, wird um diese Werkausgabe nicht herumkommen. Zweierlei sticht ins Auge, wenn man ihre Texte wieder liest: wie unermüdlich sie hartnäckige Mißverständnisse bekämpft, den vermeintlichen Realismus der Kinobilder betreffend; und wie sehr das Kino als abgeschlossene Form erscheint, je intensiver sie sich mit seinen Anfängen befaßt. Irgendwie scheint beides zusammenzuhängen, scheint dieses imaginierte Ende den Anfängen schon eingeschrieben. Das Kino, so hat sie in einem Interview mal gesagt, „das war halt vielleicht nur dieses eine Jahrhundert“. Und fast hat man den Eindruck, als müsse man mit ihr noch mal ganz an den Anfang zurück, um es neu erfinden zu können. Jedenfalls kann man in ihren Texten für sich selbst immer wieder neu finden, was im Kinoalltag sonst womöglich verlorengegangen ist.

Fritz Langs Karriere empfindet sie als Glück, weil deren Anfänge mit denen des Kinos identisch und darin alle fundamentalen Probleme des Mediums eruiert worden seien. Gerade in seinem Hang zu Kolportage werde sichtbar, daß Kinofaszination nicht über die aus anderen Künsten übernommenen Vorstellungen von Originalität, sondern über Wiederholung laufe, weil die Geschichten vorgeformter und stereotyper sind und sich aus einem allgemeinen Fundus an Verfügbarem speisen. Und wenn man das so liest, dann merkt man, wieviel Mühe man noch heute hat, die alten Reflexe zu unterdrücken, und fühlt sich ertappt, wenn sie in ihrer Ehrenrettung für CALIGARI über dessen Kritiker schreibt: „Auf die Idee, daß revolutionäre Tendenzen in dem neuen Medium selbst stecken könnten, kommen weder Kracauer noch seine Nachbeter. Ihnen sind individuelle Anstrengungen bürgerlicher Autoren vertrauter und deshalb auch lieber.“

Gerade davon kann man noch heute lernen, von der Beharrlichkeit, mit der sie darauf hinwies, daß man sich die Unterschiede zu den anderen Künsten immer wieder bewußtmachen müsse. Daß man immer im Blick behalten müsse, wieviel Kräfte im Kino am Werk sind und wie vieles sich dadurch unbewußt, sogar hinterrücks abbilde. Zu Mankiewicz‘ THE GHOST AND MRS. MUIR schreibt sie, sein Geist habe „unabhängig von den berechneten Absichten“ Eingang in den Film gefunden, die Elemente seien „wie zufällig, spukhaft“ schon beisammen. So gesehen verführt gerade der von der Nouvelle vague geprägte Autorenbegriff zu allerlei Mißverständnissen, dabei war gerade bei deren Autoren das Bewußtsein für die spezifischen Schreibweisen des Kinos besonders ausgeprägt. Aber auch sie profitierten von ihrer historischen Situation, die amerikanischen Filme aus den Kriegsjahren in gedrängter Form nachholen und dabei stilistische Gemeinsamkeiten wahrnehmen zu können, für die sie sonst womöglich blind geblieben wären.

Auch in Frieda Grafes Texten schwingt durchaus das Eingeständnis mit, daß der Realismus des Kinos natürlich auch „verführerisch objektiv“ wirke, aber trotzdem stets gelte: „So realistisch auch der Schein sein mag, unmittelbare Abbildung gibt es auch im Kino nicht.“ Man glaubt auch zu verstehen, warum sie die Berührung mit dem gegenwärtigen, allzu nahen Kino scheute: weil der Blick aus größerer Distanz einer Vereinnahmung durch die Bilder entgegenwirkte und weil man sich der Gefräßigkeit moderner Illusionsmaschinen eben doch nicht so leicht entziehen kann.

Ihre eigenen Beschränkungen fanden immer Eingang in ihre Texte, und das war mehr als Koketterie. Im Band „Filmfarben“ findet sich ein Interview mit Miklos Gimes, in dem sie sagt: „Der Anstoß, mich intensiver mit Farbe im Film zu beschäftigen, war die simple Feststellung, daß sie ein so entscheidender Faktor beim Filmsehen ist, im Schreiben über Film aber nur geringen Raum einnimmt. Ich habe mich gefragt, ob es mit meiner Neigung zu tun hat, mich für frivole Probleme zu interessieren, oder aber ob die anderen anders sehen als ich.“ Die anderen sehen schon genauso, aber wenn man Frieda Grafes Texte wieder liest, kommt man sich manchmal trotzdem ganz schön blind vor.

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