18. Oktober 1990 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Delphine Sevrig

Zu schön, um wahr zu sein

Zum Tod der französischen Schauspielerin Delphine Sevrig

Delphine Seyrig, so heißen Frauen, die man sich erfindet, keine wirklichen Wesen. Man konnte ihr deshalb auch, wie allen Phantasiegestalten, die Anstrengung ansehen, die es kostet, sichtbar zu sein. Die große Müdigkeit aller schönen Frauen lag auf ihrem Gesicht, verlieh ihm sanftere, menschlichere Züge. Sonst wäre man bei ihrem Anblick womöglich zu Stein erstarrt.

Delphine Seyrig wurde 1932 in Beirut geboren, ging Ende der Fünfziger zum Actor’s Studio nach New York, um nach Frankreich zurückzukehren für eine Rolle in Alain Resnais‘ Comic-Verfilmung der Abenteuer von Harry Dickson, die nie zustande kam. Statt dessen spielte sie in LETZTES JAHR IN MARIENBAD eine Frau ohne Geschichte, einen Paradiesvogel, um den die Kamera kreiste wie um eine Statue. Zusammen mit Resnais hat sie sich vorher Stummfilme von der Garbo angesehen und dann ihre Traumgestalt Stück für Stück entworfen. Ihre Erscheinung war danach von fast architektonischer Schönheit.

Wo sie auftauchte, schlug sie die Kamera in ihren Bann, die Geschichten kamen um sie herum zum Erliegen. Die traumwandlerische Musik ihrer Stimme besaß die Schönheit einer Kamerafahrt, sie brachte die Filme zum Schweben. Als Helene in Alain Resnais‘ MURIEL, als Botschaftersgattin Anne-Marie Stretter in Marguerite Duras‘ INDIA SONG, als Lady Windermere in Ulrike Ottingers JOHANNA D’ARC OF MONGOLIA. Es ist nur natürlich, daß auf den Luxus bei ihr nahtlos das Banale folgen konnte, auf den diskreten Charme der Bourgoisie die verhaltene Grazie des Alltags. In Chantal Akermans JEANNE DIELMAN sah man sie drei Stunden lang bis zur Gewöhnlichkeit entstellt und konnte sich ausmalen, daß sie in dieser Hausfrauen weit der Erfüllung ihrer Sehnsucht näher war als in den goldenen Käfigen der anderen Filme: von ihrer, Schönheit erlöst zu werden, unsichtbar zu werden.

Unter all ihren Lichtgestalten, die die Schaulust des Kinogehers kristallisierten, gab es keine Schönere als Fabienne Tabard in Francois Truffauts GERAUBTE KÜSSE. Antoine Doinel sagt von ihr, sie sei keine Frau, sondern eine Erscheinung. Und als er eines Tages zum Kaffeetrinken bei ihr eingeladen ist, antwortet er vor Aufregung auf ihre Frage „Lieben Sie Musik, Antoine?“ mit „Ja, Monsieur“ – und flieht vor Scham. Und von allen Träumen, die wir je im Kino gehabt haben, folgt nun der tröstlichste. Sie schreibt ihm einen Brief, in dem sie ihm den Unterschied zwischen Takt und Höflichkeit erklärt: Ein Mann irrt sich in der Tür und sieht eine Nackte. Wenn er sagt „Pardon, Madame“, dann sei das Höflichkeit, wenn er hingegen „Pardon, Monsieur“ sagt, sei das Takt. Und dann kommt Fabienne Tabard zu ihm, ein einziges Mal, um ihm zu zeigen, daß sie keine Erscheinung, sondern eine Frau ist. Nie war eine Frau im Kino schöner als Delphine Seyrig in diesem Moment. Am Montag ist sie gestorben. Sie war erst 58 Jahre alt.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


siebzehn + siebzehn =