31. März 1994 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Margaret Millar

Aus allen Wolken

Zum Tod von Margaret Millar

Eine Frau träumt. Im Traum sieht sie ihr eigenes Grab. Auf dem Grabstein steht ein Datum: 2. Dezember 1955. Im konventionellen Schauerroman würde man diesem Tag entgegenfiebern und mit der Heldin um ihr Leben bangen. In Margaret Millars Roman „Ein Fremder liegt in meinem Grab“ liegt dieser Datum jedoch schon vier Jahre zurück, und die Heldin kann sich im beim besten Willen an keine besonderen Vorkommnisse, geschweige denn an den Tag selbst erinnern. Um die außerordentliche Perfidie dieser Konstruktion zu begreifen, muß man nur mal selbst versuchen, einen ganz normalen Tag vor vier Jahren zu rekonstruieren.

An Margaret Millars Leben war nichts weiter ungewöhnlich – außer der Tatsache, daß sie mit Kenneth Millar verheiratet war, der es als Ross MacDonald selbst zu beträchtlichem Ruhm als Kriminalschriftsteller gebracht hat. 1940 schrieb sie ihren ersten Roman, dann ging ihr Mann in den Krieg, und sie zog mit der Tochter nach Kalifornien. Und als der Mann wieder zurückkam, hatte sie fünf weitere Romane veröffentlicht und einen davon an Hollywood verkauft. Gut zwanzig weitere Romane hat Margaret Millar im Laufe ihres Lebens geschrieben, in denen sie eine wunderbare Balance zwischen Plot und Psychologie fand.
Unter dem sonnigen kalifornischen Alltag gähnt in diesen Büchern ein schwarzes Loch, das den Figuren den Verstand oder den Schlaf raubt. Und die Autorin besaß ein ungeheueres Geschick, ihre Handlungsfäden wie Spiralen langsam ins Dunkel eintauchen zu lassen. Die Lösung ihrer schrecklichen Geheimnisse gab sie gerne erst mit den letzten Worten ihrer Geschichten preis. In „A Stranger in My Grave“ läßt sie sich zum Beispiel bis zu den letzten beiden Worten Zeit, um alle Fäden zu verknüpfen. Das konnte sie wie kaum ein anderer: die Leser am Ende ihrer Bücher regelmäßig aus allen Wolken fallen zu lassen. Am Samstag ist Margaret Millar im Alter von 79 Jahren in Santa Barabara gestorben.

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