09. Dezember 1987 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Rouben Mamoulian

Lebensrhythmen

Zum Tod des großen Regisseurs Rouben Mamoulian

Rhythmus ist alles. Daran glaubte Mamoulian fest. reine Kolportage waren, hat man ihm vorgehalten. Der Rhythmus, so sagte er, sei die größte in der Natur wirkende Kraft. Und um das zu illustrieren, führte er gern ein Beispiel aus der Physik an: Daß Soldaten niemals im Gleichschritt über eine Brücke marschieren dürften, weil sich dadurch die Eigenschwingungen so aufschaukeln können, daß die Brücke einstürzt.

Diesem Naturgesetz vertraute er und wandte es auch so an. Aber es war bei ihm kein Vorwand für strenges Montage-Kino, mehr eine Anleitung fürs Geschichtenerzählen, für eine Art der Inszenierung, die auch die Farben einband in seine rhythmische Dramaturgie. Das ist schon immer wieder verblüffend, wenn man Interviews der alten Hasen aus Hollywood liest. Wie praktisch sie alle an ihre Arbeit herangingen und wie selbstverständlich sie diese Arbeit nur als einfachste Lösung des Problems begriffen.

Rouben Mamoulian war einer, den die Not immer ganz besonders erfinderisch machte. Doch die Filmindustrie ist undankbar, und so wurden seine Einfälle ins Repertoire übernommen, ohne daß er dafür den Ruhm hätte einheimsen können. Im Gegenteil, man hat es ihm noch vorgeworfen, hat sein Werk auf den puren Formalismus reduziert. Dabei hat er stets versucht seine Erfindungen in den Dienst der Filmsprache zu stellen, um wegzukommen vom Theater und seinem im Kino hinderlichen Bühnennaturalismus. Mamoulian war immer unter den ersten: bei der beweglichen Kamera im Tonfilm, bei der Einführung der Zweispurtonaufnahme und etlichem mehr. Mamoulian wußte schon, warum er sich nie auf längerfristige Kontrakte einließ. Kein noch so verlockendes Angebot konnte ihn dazu bewegen, sich als Studioregisseur verpflichten zu lassen. Es waren alles nur Einzelaufträge, für Paramount oder 20th Century-Fox, MGM oder Columbia. Entsprechend vielfältig wurde sein Werk. Weil er alles ausprobieren wollte: Gangsterfilm und Musical, Kostümfilm und Melodram. Daß dabei seine Geschichten nie sonderlich originell, oft reine Kolportage waren, hat man ihm vorgehalten. Übersehen wurde wie üblich, daß im Kino Geschichte immer nur ein Vorwand ist nie Selbstzweck.

Aber Mamoulian haben solche Vorwürfe ohnehin nicht angefochten, weil er von der Bühne kam und wußte, was er vom Kino wollte. Und dafür brauchte er keine sogenannten anspruchsvollen Geschichten. Er wollte vom Film, was ihm das Theater – wo er im übrigen erfolgreicher war – nicht bieten konnte: das Eigenleben der Dinge, den rhythmisch gegliederten Bück, die Identifikation des Zuschauers mit einer subjektiven Perspektive auf die Welt.

Man muß sich die Filme nur mal ansehen, wie stilsicher und geschmackvoll er mit seinem Material umging. SILK STOCKINGS (1957) mit Fred Astaire und Cyd Charisse, QUEEN CHRISTINA 1932) mit Greta Garbo und John Gilbert, BLOOD AND SAND (1941) und THE MARK OF ZORRO mit Tyrone Power und Linda Darneil, oder CITY STREETS (1931) mit Gary Cooper und Sylvia Sidney. Da stimmen überal Tempo, Bewegung, Rhythmus; sie sind oft mehr choreographiert als inszeniert: 16 Filme in knapp 30 Jahren.

Mamoulian sagte einmal: „Der Stil ist der Mensch, und der Mensch ist der Stil.“ Und was gäbe es für einen schöneren Beleg zu dieser Einstellung als folgende Geschichte. Bei Frederic Marchs Verwandlungsszene in DR. JECKYLL AND MR. HYDE (1931) suchte das Team vergeblich nach einer passenden Tonuntermalung. Alles wurde probiert nichts zeitigte das erhoffte Ergebnis. Dann hatte Mamoulian eine Idee. Er lief zwei Minuten die Treppe rauf und runter und hielt dann das Mikrophon an sein Herz. Der Rhythmus der Tonspur bei dieser Szene ist nun der seines Herzschlags. So einfach ist das und so menschlich.

Die im georgischen Tiflis geborenen Mamoulians können sich nicht beschweren: Vater Zacharias wurde 100, Mutter Virginie 98 Jahre alt. Am Freitag ist Sohn Rouben im Alter von 89 Jahren in Beverly Hills gestorben.

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