05. September 2001 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Pauline Kael

Der Zauber des ersten Mals

Zum Tod der amerikanischen Filmkritikerin Pauline Kael

Falls es für Filmkritiker doch so etwas wie einen Himmel geben sollte, dann bestünde er keineswegs darin, dort all den Gestalten leibhaftig zu begegnen, die ihnen zeitlebens auf der Leinwand entgegengetreten sind. Und schon gar nicht möchten sie deren Darstellern über den Weg laufen – auch wenn Pauline Kael für Cary Grant womöglich eine Ausnahme gemacht hätte. Wenn der Himmel für eine Filmkritikerin wie sie etwas bereithält, dann wäre es die Möglichkeit, die Filme ihres Lebens auf immer und ewig wie beim ersten Mal sehen zu können. Nochmal am eigenen Leib spüren zu können, wie der Blitz des Erkennens einschlägt oder sich die Wellen der Begeisterung langsam ausbreiten, das sind Erfahrungen, die leider nicht wiederholbar sind. Beim zweiten Mal mag das Auge mehr erkennen, aber die Unschuld des Blicks ist verloren. Womöglich hat Pauline Kael deshalb nicht einmal ihre Lieblingsfilme häufiger als einmal angesehen, hat sie lieber im Herzen getragen und sich auf die legendäre Genauigkeit ihrer Erinnerung verlassen. Man liebt nur einmal. Kein Wunder also, daß das Dutzend Titel ihrer Kritikensammlungen allesamt ein schön zweideutiges Spiel mit der Erotik des ersten Mals treibt: „I Lost It at the Movies“, „Kiss Kiss Bang Bang“, „Going Steady“ oder zuletzt „For Keeps“.

Von 1968 bis 1991 war Pauline Kael mit einer kurzen Unterbrechung als Filmkritikerin des „New Yorker“ die prominenteste Stimme der Branche, als Institution gleichermaßen geliebt wie gefürchtet – und das will in einem Land, das im Kino eine identitätstiftende Kraft sieht, beides etwas heißen. Womöglich rührte ihre eigene Stärke daher, daß sie die Filme erst einmal als populäre Vergnügungen ernst nahm, immer nah an den Wurzeln des Kinos blieb. Das, so schrieb sie, lebe eben nicht „von der Imitation europäischer Hochkultur, sondern von Peep-Shows, Wildwest-Shows, Music Halls, Comicstrips, also vom durch und durch Gewöhnlichen“. Und am allerliebsten war es ihr, tausend Gründe zu finden, warum ein Film nichts taugt, um dann etwa über Sydney Pollacks „So wie wir waren“ zu schreiben, wie verdammt vergnüglich der Film doch gewesen sei.

Genau um diese Differenz kreiste ihr Schreiben: zwischen dem, was man weiß, und dem, was man sieht und fühlt. Niemand sonst erforschte so ausdauernd dieses schwarze Loch der Sensationen, das im Kino so gerne alle Regungen des Verstandes verschluckt – und keiner war so präzise und anschaulich im Benennen von Gründen, warum die Filmgeschichten was mit uns anstellen. Um das transparent zu machen, verwandelten sich ihre Texte den Filmen an, schmiegten sich geradezu an sie, damit die Wellenbewegungen unter ihrer Oberfläche spürbar werden. Und auch wenn sie in ihren ersten Jahren beim „New Yorker“ ermüdende Auseinandersetzungen mit dem Chefredakteur William Shawn über ihre flapsige Ausdrucksweise zu überstehen hatte, kann man doch nicht behaupten, Pauline Kael habe geschrieben, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Dazu sind die Texte viel zu sehr aus einem Guß und wissen viel zu genau, wo die wunden Punkte ihres Gegenstands liegen.

Notorisch war ihre Abneigung gegen Eastwood oder Kubrick, aber genauso vehement ihre Verteidigungen von Filmen wie THE WILD BUNCH oder BONNIE & CLYDE, den sie zum Einstand 1968 als einzige New Yorker Kritikerin lobte. So war sie Hollywood in der größten Distanz wie in der nächsten Nähe gewachsen und hat anschaulich gemacht, wie sich dort etwas abbildet, was man amerikanisches Denken nennen könnte.

1991 mußte Pauline Kael wegen der Parkinsonschen Krankheit das Schreiben einstellen und meldete sich nur noch von Zeit zu Zeit in Interviews zu Wort. „Ich werde oft gefragt“, hat sie dabei gesagt, „warum ich nicht meine Memoiren schreibe. Dabei habe ich das doch die ganze Zeit getan.“ Vorgestern ist Pauline Kael in ihrer Wahlheimat Great Barrington in Massachusetts im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben.

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