Der kunstvolle Faltenwurf des Schicksals
Auf der Flucht vor dem weißen Tod: Der italienische Schauspieler Vittorio Gassman ist im Alter von 77 Jahren gestorben
Er nannte es den weißen Tod. Was für ein schöner Ausdruck für den namenlosen Schrecken der Depression. Zweimal in seinem Leben hat ihn der weiße Tod ereilt – da brach er Aufführungen ab, wollte nicht mehr drehen oder kam nicht mehr aus dem Bett. In solchen Momenten ist sicher niemand ein schöner Anblick, aber die Vorstellungskraft kann gar nicht anders, als sich Vittorio Gassman auch in diesem Zustand irgendwie elegant, würdevoll, groß auszumalen. An seinem Ebenmaß prallen alle Imaginationen ab. Man muss nur mal den Test machen und überprüfen, was vor dem geistigen Auge zum Vorschein kommt: In einem verdüsterten Zimmer, inmitten von schweren Möbeln, das Frühstückstablett unangetastet, im weißen Morgenmantel, die Stirn zerfurcht, das Haar zerrauft, im Elend erstarrt – und doch wie aus Marmor gemeißelt. In seinen Augen bekommt sogar der weiße Tod noch etwas Statuarisches. Woran liegt das, dass seine Erscheinung alle Einbildungen aufsaugt?
Womöglich sah Gassman zeitlebens einfach zu gut aus, und unsere am Kino geschulte Einfalt will es, dass man dahinter stets auch eine große Leichtigkeit, einen Überschwang des Herzens vermutet – so, als müsse ein Gleichklang bestehen zwischen dem kühnen Schwung seiner Züge und der Art, wie sich so jemand durchs Leben bewegt. Immerhin war Gassman tatsächlich mal Basketball-Nationalspieler, was bei seinen 1 Meter 90 kein Wunder ist.
Trotzdem ist ihm das Leben schwerer gefallen, als man annehmen möchte, und natürlich steht auch das in seinen Augen geschrieben. Jene Melancholie und Schwermut umschattete seine Augen unter buschigen Brauen, die schöne Männer noch besser aussehen lässt. Gewiss besaß er ein Siegerlächeln und eine Raubvogelnase, die Frauen schon beim ersten Blick in die Knie gehen lassen, aber sie verstärkten nur den Eindruck, dass sich hinter der Fassade der Siegesgewissheit Abgründe verbergen, Geheimnisse, an die nur rühren sollte, wer bereit ist, sich selbst aufzugeben. Und auch, wenn die Falten so aussahen, als habe das Schicksal sie nur besonders kunstvoll drapiert, so war doch jede einzelne tatsächlich eine Spur, die das Leben dort hinterlassen hat, eine teurer erkauft als die andere.
Andererseits hatte er für jene Akteure, die Rollen erfahren statt erspielen wollen, nicht viel übrig. Dazu zitierte er häufig eine Anekdote, bei der Laurence Olivier und John Gielgud einem Method-Actor dabei zusehen, wie er sich vor dem Auftritt in seine Rolle versenkt, und ihm dann zurufen: „Wie wär’s, wenn Sie es mal mit Spielen versuchten?”
Noch vor zehn Jahren wetterte Gassman gegen das Regietheater, das nur Theorie und Ideologie kenne, und zettelte einen Streit mit Giorgio Strehler übers mutlose italienische Subventionstheater an. Er selbst war ein Mann des Handwerks, führte lange eine Theatergruppe und gründete 1980 eine Schauspielschule. Die Bühne lag ihm eben im Blut: Schon der Großvater des Genuesen hatte in Karlsruhe einst ein Theater geleitet. Und so hat das Bühnentier Gassman in seinem Leben alles gespielt, was das Theater für Leute wie ihn bereit hält: Hamlet, Orest, Othello, Orlando – und für die griechischen Klassiker war er mit seiner antikischen Statur ohnehin wie geschaffen. Wahrscheinlich wirkte er auf der Bühne so, als sei er gerade erst von seinem Podest herunter gestiegen. Die große Geste, die verzweifelte Pose war sein Terrain, aber er war klug genug zu wissen, dass das Kino anderen Gesetzen gehorcht: „Vor der Kamera wird die mimische Bravour ein Handicap. Man muss lernen, ein Objekt zu sein. ”
Bei über 120 Filmen lässt es sich nicht vermeiden, dass diese Aussage wörtlicher genommen werden muss, als sie gemeint war – in vielen Filmen war sein Auftritt das einzig Erwähnenswerte. Vielleicht konnte er einfach nicht anders, weil er sich nur wirklich wohl fühlte, wenn der Blick auf ihn gerichtet war – und sei es nur der der Kamera. Gassman war sich nicht einmal für Werbefilme zu schade: „Es stimmt, ich habe auch einen Spot für Durchfallmittel gedreht. Aber ich habe dabei an Ibsen und Tschechow gedacht und in den Pausen Shakespeare gelesen. ”
Natürlich liest sich die Liste seiner Regisseure wie eine Geschichte des italienischen Films: Rossellini, Scola, Soldati, Comencini, Risi, Rosi, Monicelli, Freda, de Santis – dazu kommen seine Filme in Hollywood, wo er mit Shelley Winters verheiratet war: King Vidors KRIEG UND FRIEDEN, Charles Vidors RHAPSODY, Robert Rossens MAMBO, John Farrows SOMBRERO, Richard Fleischers BARABBAS, Joseph H. Lewis’ CRY OF THE HUNTED. Am prominentesten ist er womöglich durch seine Blindenrolle in Dino Risis DUFT DER FRAUEN geworden, die später auch Al Pacino einen Oscar eingebracht hat. Und letztlich überlagern sich alle Rollen im versteinerten Gesicht des Patriarchen, den er in Ettore Scolas LA FAMIGLIA gespielt hat und der den eigenen Satz Lügen straft, wonach es genüge, wenn das Auge eines Schauspielers nur drei-, viermal am Tag Funken sprühen würde.
Vittorio Gassman hat mal gesagt: „Ich will nicht sterben, ohne vorher den Geschmack des Todes gekostet zu haben. ” Auf diese Weise ist er vielleicht viele Tode gestorben, aber er hat dafür auch ein Leben gelebt, das seinen Namen verdient. Nun ist er im Alter von 77 Jahren einem Herzinfarkt erlegen: Der Tod ist schwarz.