26. November 1993 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Anthony Burgess

Der Fürst der Phantome

Anthony Burgess gestorben

1959 fiel der Lehrer vor seiner Klasse einfach um. Gehirntumor, hieß es, höchstens noch ein Jahr zu leben. Man schaffte den Todgeweihten aus Brunei nach England, wo er in einem Jahr fünf Romane schrieb. Er wollte, sagt er, seiner Witwe wenigstens etwas hinterlassen. Gestorben ist er dann doch nicht, aber fortan hat er geschrieben, als säße ihm der Teufel im Genick. So fing alles an. Heißt es.

Wir lügen, sagt einer seiner schreibenden Helden, für den Lebensunterhalt. Ein erstklassiger Lügner war Anthony Burgess in der Tat. Das mußte er auch sein, denn mit Wahrheiten allein wären nicht so viele Bücher zu füllen gewesen. Darin gleicht er seinem Landsmann, dem Filmemacher Peter Greenaway, der sich Worte und Namen erfunden hat, um der Welt eine Ordnung zu verleihen. Und Burgess hat seine Hirngespinste auf genauso virtuose Weise mit Gelehrigkeit verknüpft, daß man selbst seine Biographien realer Figuren wie Shakespeare oder Hemingway für die reinsten Lügengeschichten halten könnte. Und natürlich hat er einige von ihnen wie in seiner „Napoleon-Symphonie“ in reine Kunstfiguren verwandelt.

1917 wurde Burgess in Manchester geboren, „als der Erste Weltkrieg die Musik machte, hämmernd und dröhnend, und mit dem Fuß voll auf dem Forte-Pedal“. Der Vater schlug sich als Pianist durch, die Mutter war Tänzerin und starb zusammen mit der Schwester, noch ehe der Vater aus dem Krieg zurückkam. So steht es geschrieben, aber es kann gut sein, daß da seine Vorliebe für Charles Dickens mit Burgess durchgegangen ist. Schließlich ist jemand, der zum Tode verurteilt war, dem Leben nichts mehr schuldig. Und kann sich alles neu erfinden. Herkunft, Beruf, Existenz. Identität.

Man kann aber getrost davon ausgehen, daß seine irisch-katholische Herkunft Anthony Burgess von Anfang an auf Distanz gehen ließ zu seiner englischen Heimat. Erst seelisch, dann räumlich. Im Zweiten Weltkrieg wurde Burgess auf Gibraltar stationiert, lehrte danach Literatur und ging dann als Erziehungsoffizier nach Südostasien. Bis ihn der Schlag traf. Und er von vorne anfangen konnte.

„Morgens nach dem Tee setze ich mich an die Maschine: Tausend Wörter pro Tag, auch am Wochenende. Drei Seiten vollkommen ausgearbeitet getippt. Bei diesem Tempo schafft man ein Buch wie „Krieg und Frieden“ in einem Jahr, oder in anderthalb. Wenn ich mit der Arbeit fertig bin, koche ich. Nachmittags komponiere ich.“ So hat Burgess La stampa seinen Arbeitstag beschrieben. Und so war es wohl auch. Über fünfzig Bücher hat er geschrieben und sich damit keinen Gefallen getan. Der Kritik war diese Schreibmaschine immer wieder suspekt. Dabei kann man solche Schreibwut einem Autor, der sich schreibend dem Tod entwunden hat, eigentlich kaum übelnehmen. Tut mir leid, daß es so viele sind, sagte er selbst.

Die englische Sprache, sagte Burgess, sei schwierig. Auch deswegen hat er viel geschrieben. Um sie zu meistern. Um ihre eine eigene Welt abzutrotzen. Am besten ist ihm das mit „Uhrwerk Orange“ 1962 gelungen, der neun Jahre später durch Kubricks Verfilmung Anstoß erregte. Da hatte Burgess einer Jugend eine Sprache und eine Welt erfunden, die sich nicht vereinnahmen ließ. Auch wenn und weil sie den Kürzeren zog. Da hatte Burgess wenig Illusionen. Aber für die Freiheit, sich welche zu machen, schrieb er Buch um Buch. So viele, daß die Literatur um ihn nicht mehr herumkommt.

Gestern ist Anthony Burgess im Alter von 76 Jahren in London gestorben. Das letzte Wort hat der Fürst der Finsternis: „Die Schlüsse sind mir in meiner ganzen literarischen Entwicklung immer peinlich schwer gefallen. Gott oder irgendwem sei Dank, die letzten Worte sind nicht für meine Feder, und ihr Ton, ob nun kratzend oder ohrenschleckend, kann nach der Natur der Dinge, besagtem Irgendwem sei abermals Dank, nicht mehr lang auf sich warten lassen. Ich hoffe, es geht ohne Träume.“

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