Feldzug der Zärtlichkeit
Ein Gespräch mit Wim Wenders über Zukunft und Verantwortung des Kinos
Wim Wenders war am Vorabend der Katastrophe aus Los Angeles nach Berlin gekommen, um die Eröffnung seiner Photo-Ausstellung „Bilder von der Oberfläche der Erde“ vorzubereiten. Seine großformatigen Landschaftsaufnahmen reflektieren genauso wie seine Filme das Verhältnis zwischen Bildern und Wirklichkeit, eine Beziehung, die durch die Anschläge von New York wie nie zuvor auf eine brutale Probe gestellt wurde. Da paßte es dann ganz gut, daß während des Interviews im Café Einstein unter den Linden sich plötzlich Otto Schily und Joschka Fischer an den Nebentisch setzten – als wären diese beiden Hauptdarsteller der Fernsehinszenierungen der letzten Tage plötzlich aus den Bildern in die Wirklichkeit getreten. Wenders schien von dieser Begegnung der dritten Art jedoch unbeeindruckt – solche Übersprunghandlungen zwischen Realität und Fiktion ist er offenbar gewohnt.
F.A.Z.:Das Kino war in letzter Zeit in aller Munde. Viele hielten die Bilder der Katastrophe im ersten Moment für einen schlechten Film. Wie haben Sie den Anschlag erlebt?
Wenders: Ich habe zuerst gedacht, es handle sich um eine Computeranimation, und habe erst nach ganz langer Zeit begriffen, daß das nicht so war. Ich kann nur sagen, daß – abgesehen natürlich von jenen Menschen, die existentiell betroffen sind – diejenigen den größten Schaden davongetragen haben, die mit solchen Bildern professionell zu tun haben: jene Spezialisten, die vor dem Monitor sitzen und Sachen in die Luft sprengen und digital zusammensetzen, was real nicht zusammengehört. Davon kenne ich zwei, die jetzt mit den Nerven absolut am Ende sind; die auch nicht wissen, was sie als nächsten Beruf machen sollen, weil sie so nicht mehr weitermachen können. Man kann sagen, daß dieses Zusammenfügen von Bildern, dieser professionell sehr leichtfertige Umgang mit Explosionen und Katastrophen in den letzten Jahren damit an sein Ende gekommen ist. Ich weiß gar nicht, wer jetzt noch in diese Filme reingehen möchte.
F.A.Z.: Glauben Sie also, daß das Kino eine Art Mitverantwortung an den Vorkommnissen trägt?
Wenders: Erstmal sind Kino und Wirklichkeit natürlich zweierlei; aber der Hinweis, das eine sei Realität, ändert natürlich phänomenologisch nichts an der Situation, daß man vor dem Fernseher sitzt und zusieht. Beides sind erstmal ja nur Bilder. Und eingesickert ist es bei vielen tatsächlich erst Tage später. Im allerersten Erleben war diese Trennlinie zwischen Fiktion und Realität äußerst unscharf und wabrig, da sind viele von dem schmalen Grat heruntergeflogen, und es hat sich erst im nachhinein die Frage gestellt: Wie gehe ich jetzt damit um?
F.A.Z.: Warum war die Trennlinie diesmal so viel schmaler? Attentate hat es ja auch vorher schon gegeben.
Wenders: Weil die Terroristen Bilder kopiert haben, die wir aus Katastrophenfilmen oder Videospielen kennen. Dort gibt es immer einen Rambo oder James Bond, der im letzten Moment einschreitet. Jetzt mußten wir plötzlich miterleben, wie diese abstrusen Phantasien in die Realität einbrachen. Man kann sagen, daß wir alle noch nie ein Ereignis gesehen haben, daß uns so verstört hat und unser Verhältnis zu Bildern und Medien so nachträglich weiter verstören wird. Die besten Sicherheitsberater sind zukünftig wahrscheinlich irgendwelche ausgeflippten Szenaristen. Denn das, was sich die Verrücktesten unter ihnen ausgedacht haben, ist ja nun Wirklichkeit geworden. Vielleicht muß man einige von den „perversesten Gehirnen“ anzapfen, um rauszukriegen, was noch geschehen kann – und die sitzen nun mal als Drehbuchschreiber in Hollywood und verdienen viel Geld.
F.A.Z.: War das vielleicht der entscheidende Unterschied: daß dieser Anschlag so augenscheinlich als Inszenierung angelegt war?
Wenders: Die Inszenierung war ja so perfide in ihrem Ablauf, daß man dachte, man müsse aus dem Fenster sehen, ob man nicht selbst schon unter Beschuß ist. Bei uns hat man doch sehr bald in den Zeitungen über die Hintergründe erfahren. Die Amerikaner sind hingegen in eine paranoide Stimmung hineingetrieben worden, indem sie den Alptraum immer wieder vorgesetzt bekommen haben. Ich habe dann irgendwann CNN grundsätzlich nicht mehr angemacht, und wenn, dann nur, um bestätigt zu sehen, daß der Alptraum immer weitergeht. Und wenn man das stundenlang weitergucken würde, würde man genauso paranoid und krank im Kopf. Deswegen war ich für die deutsche Presse ausgesprochen dankbar, habe die halbe Nacht Artikel übersetzt und sie nach Los Angeles geschickt, damit die aus ihrem Alptraum herauskommen.
F.A.Z.: Das war ja schon früher Ihre Kritik an Amerika, daß dort die Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit bewußt betrieben wird.
Wenders: News sind in Amerika dermaßen zum Entertainment verkommen, daß man an dem Tag, wo man sie wirklich auseinanderhalten müßte, genau das nicht mehr kann. Aber die Leute gucken immer weiter, weil sie denken, gleich muß was passieren. Das ist auch eine Art Droge, der ganze Tag war ja wie eine Droge.
F.A.Z.: Ist das Wort Verantwortung zu hoch gegriffen?
Wenders: Das ist bestimmt zu hoch gegriffen, weil das Kino ja nur ein Teil einer Kultur ist, in der so ein Kino möglich ist. Ein Teil dieser Kultur ist ja auch das genüßliche Spiel mit jeder Art von Tabu. Die Spaßgesellschaft hat sich halt der Tabus angenommen und die Tabus umgekehrt in Spaß. Daß einen diesmal aller Spaß im Halse stecken geblieben ist, bis man sich sozusagen an seinem eigenen Erbrochenen nochmal erbrochen hat, das hat es noch nie gegeben. Und daran wird diese Spaßgesellschaft vielleicht nicht zugrunde gehen, aber daran wird sie unglaublich zu schlucken haben. Und das wird auch wahrscheinlich kulturell mehr verändern als politisch, obwohl man ja gerade den Eindruck hat, daß durch die Perfidie des Geschehens vielleicht auch politisch utopische Dinge möglich sind, die man sich vorher nicht vorstellen konnte.
F.A.Z.: Impliziert dieser Begriff der Spaßgesellschaft nicht auch jene Art von sündigen Vergnügungen, gegen die diese Angriffe ja auch gerichtet waren?
Wenders: Es wird im Zusammenhang mit Horror- und Katastrophenfilmen immer von Katharsis gesprochen. An diese reinigende Wirkung habe ich nie geglaubt. Ich denke schon, daß es ein gewisses Sensationskino sehr schwer haben wird in den nächsten Jahren. Weil es auf Überbieten angelegt ist, es aber in diesem Fall gar nichts mehr zu überbieten gibt.
F.A.Z.: Ändert der Anschlag unseren Blick auf Städte?
Wenders: Ich habe letzte Woche den Kölner Dom gesehen, und da ist mir eingefallen, daß er nur deswegen steht, weil die amerikanischen Piloten ihn für die Navigation brauchten. Und natürlich sieht man auch solche Gebäude jetzt anders, weil man sich im klaren darüber ist, wie fragil alles ist. Aber ich bin eigentlich eher einer, der geneigt ist, umgekehrt zu denken: Was kann Gutes daraus kommen?
F.A.Z.: Glauben Sie, daß die Künste den Menschen bei der Verarbeitung dieser Bilder helfen können?
Wenders: Ich glaube, daß der Umgang mit Zärtlichkeit, ein liebevoller Umgang mit Menschen und Städten bestimmt in der nächsten Zeit einen Aufschwung erleben wird, weil viele Menschen als unmittelbare Folge dieser Bilder erkannt haben, wieviel menschliche Beziehungen, Freundschaften und das schlichte Überleben wert sind. Bei allen Menschen habe ich eine höhere Aufmerksamkeit gespürt, für Dinge, die man wieder wertzuschätzen lernen muß. Vielleicht liegt darin die Hoffnung: Daß man vielleicht doch länger überlegt, ob man eine Reise alleine macht; daß man sich Trennungen überlegt; daß man eher bereit ist, für die Tatsache, Freunde zu haben, auch einen Preis zu zahlen; daß man auch einen Feldzug an Zärtlichkeit starten kann.