'Man hat uns belogen, und jetzt sind wir wütend'
Ein Gespräch mit Filmregisseur Oliver Stone über die Folgen des Kennedy-Mordes
Am vergangenen Donnerstag kam Oliver Stones spektakulärer Film JFK in die Kinos. Die Reaktionen darauf sind geteilt. Stone behauptet, eine Verschwörung hätte zum Mord an John F. Kennedy geführt, weil der damalige amerikanische Präsident den Krieg in Vietnam nicht eskalieren lassen und mit Chruschtschow den Kalten Krieg beenden wollte. Die Gegner dieser Theorie behaupten, Kennedy habe mit dem Engagement Amerikas in Vietnam ja überhaupt erst begonnen. Michael Althen sprach mit Oliver Stone über die Gründe, diesen brisanten Stoff zu verfilmen.
Herr Stone, erinnern Sie sich, wo sie am 22. November 1963 waren?
Ich war in der Oberstufe der High School in Potsdam in Pennsylvania. Es war während der Mittagspause, und ein anderer Schüler rannte ins Zimmer – wie in der Filmszene – und sagte, der Präsident sei gerade erschossen worden.
Während jenes ganzen Wochenendes war es grausam. Wir gingen in die Kirche. Und dann das Fernsehen, in Amerika hatte nur das Fernsehen das Sagen. Das war das erste echte Fernseh-Ereignis, das unser Leben beherrschte, alle sahen zu. Ich begriff überhaupt nicht, was passiert war. Für mich war es wie ein Verkehrsunfall: Ein gutaussehender junger Präsident wird umgebracht, dann wird der Mörder umgebracht, von Jack Ruby; Jackie weint; dann tritt Earl Warren auf, er untersucht den Fall; dann ist alles gut, und LBJ setzt die Politik des Jack Kennedy fort…
Wie sähe die Welt jetzt aus, wenn JFK nicht erschossen worden wäre?
Wahrscheinlich besser, weil Kennedy eine sehr strenge Politik verfolgte: keine Kampftruppen in Cuba, in Laos oder in Vietnam. 1965 hätte er keine Kampftruppen hingeschickt, wie Lyndon Johnson es getan hat. Ich glaube nicht, daß es einen Vietnamkrieg als solchen gegeben hätte. Infolgedessen glaube ich, daß Amerika ein viel gesünderes Land wäre; das Geld, das für den Kalten Krieg ausgegeben wurde, wäre wahrscheinlich nicht ausgegeben worden. Chruschtschow und Kennedy waren dabei, einen Prototyp der Entspannungspolitik auszuarbeiten. Sie hatten den Atomwaffenfriedensvertrag unterzeichnet – ein erstaunlicher Durchbruch; der ‚heiße Draht‘ wurde eingerichtet; und bei der Raketenkrise des Jahres 1962 hatten sie ein Abkommen getroffen: kein Einmarsch, keine Raketen. Es schien sich in dieselbe Richtung zu bewegen, wie später bei Gorbatschow und Reagan. Wir hätten Milliarden von Dollars gespart, und ich glaube, der Kalte Krieg wäre schon in den sechziger Jahren zu Ende gekommen. Ich bin übrigens nicht der einzige, der so etwas sagt. Mehrere Historiker in Amerika sind zum gleichen Schluß gekommen.
Hoffen Sie, daß vielleicht einige Politiker, vielleicht gar Präsident Bush – ihr Hauptdarsteller Kevin Costner spielt ja Golf mit ihm -, jetzt versuchen werden, die Akten früher als sonst freigeben zu lassen?
Schockierende Meinung
Nein. George Bush ist ein Teil des Problems. Der ist ein ehemaliger Chef der CIA, er ist ein ‚Schnüffler‘, und er hat in letzter Zeit öffentlich behauptet, er sei mit der Warren-Kommission völlig zufrieden. Das hat er mit zirka zehn Prozent der amerikanischen Bevölkerung gemeinsam; für sie ist Oswald der alleinige Mörder. Aber den neuesten Umfragen zufolge glauben 50 Prozent aller Amerikaer, die CIA sei dahinter gewesen; weitere 18 Prozent glauben, es seien die Militärs gewesen. Mit anderen Worten: 68 Prozent aller Amerikaner sind der Meinung, die eigene Regierung habe ihren Präsidenten umgebracht. Das ist schockierend.
Können Sie einen Menschen wie Lee Harvey Oswald verstehen? Haben Sie je daran gedacht, ihn zur Hauptfigur zu machen?
Oswald ist eine faszinierende Figur, ein Rätsel. Aber für mich steht es außer Frage, daß er halb unschuldig ist. Er wurde benutzt. Er wurde ausgenutzt; er war genau das, was er zu sein behauptete. Am Ende sagte er: ‚Ich bin ein Sündenbock‘, und ich glaube ihm.
Ist das der Grund, warum er die einzige Figur im Film ist, die ähnlich wie Kevin Costner in diesem grellen weißen Licht gezeigt wird?
Drei Menschen wurden hier verleumdet. Der eine war John Kennedy. Die Medien, die Regierung haben Rufmord an ihm begangen; er war wirklich der letzte große liberale Präsident. Die Medien haben auch an Jim Garrison Rufmord begangen, er ist als Schwindler diskreditiert worden. Und Lee Oswald ist als Präsidentenmörder auch verleumet worden.
Diese drei Männer ähneln sich meiner Meinung nach, weil sie alle gleichermaßen Opfer waren, und so werden sie in diesem Film auch dargestellt.
Können Sie zu Ihrer Art des Filmschnitts etwas sagen?
Meinen Sie die zerbrochene, prismatische Splitter-ins-Gehirn-Technik, die ich anwende? Die benutzten wir, weil wir so viel Material hatten. Ich sagte, wir müssen Bewegung haben, Schnelligkeit; man darf in so einem Film nicht trödeln, es gibt so viel an Informationen. Dazu kam, daß die Tatsachen umstritten sind. Die Geschichte ist noch nicht geschrieben worden, also ist das sehr subjektiv. Ich habe offen gesagt, wir haben zwar sehr viele Tatsachen, die uns zur Verfügung stehen, aber darüber hinaus ist alles Spekulation. Man hat mich deswegen kritisiert; man wirft mir vor, das sei Fiktion, aber das würde ich bestreiten, es ist nicht Fiktion, sondern Spekulation, die auf recht zuverlässigen Tatsachen beruht.
Aggressive Methode
Das Drehbuch enthält tausend Rückblenden. Dieser Film hat 2000 Einstellungen, glaube ich. So haben wir ihn konzipiert: Es gibt eine Oberflächenhaut, wie bei einer Zwiebel; dann gibt es eine Rückblende in die nächste Schicht, und dann eine Rückblende innerhalb der Rückblende, so daß man nie genau weiß, wo man sich eigentlich befindet .
Don DeLillo schrieb, dieses Ereignis habe das Genick des amerikanischen Jahrhunderts gebrochen. Stimmen Sie dem zu?
Ich glaube, daß der Kennedy-Mord die Wasserscheide war. Er hat tatsächlich das Genick des amerikanischen Jahrhunderts gebrochen; das ist ein guter Ausdruck dafür, finde ich. Wir haben immer noch damit zu tun. Wir haben inzwischen – so finde ich – fünf Hochstaplerpräsidenten gehabt. Es geht darum, wer das Land regiert. Haben wir wirklich eine Demokratie? Geben die Bürger ihre Stimme für Amtsträger ab, die dem Volk wirklich rechenschaftspflichtig sind? Warum sieht das amerikanische Volk nicht alle Akten, die sich mit diesem Fall befassen? Gibt es eine heimliche Regierung der CIA, die in Wirklichkeit das Sagen hat und die die Entscheidungen trifft? Die uns in den Krieg nach Iran und Irak schickt? Das sind die Fragen, die wir werden beantworten müssen im nächsten Jahrhundert. Die Leute in meinem Alter, 40 bis 50 Jahre alt, die jetzt an die Macht kommen, die wurden von der Ermordung Kennedys geprägt.
In Amerika hat es ja vorher etwa schon einen McCarthy gegeben. Warum hat das nicht die Wirkung des Kennedy-Mordes gehabt?
Er hatte wohl eine Wirkung, eine sehr schlimme sogar. Er hat Rufmord und Demagogie erst ermöglicht. Er hat die Macht der konservativen Revolution geschaffen, die in Amerika herumspukt. Reagan und Bush haben von McCarthy profitiert, weil es McCarthy war, der den Verfolgungswahn des Kalten Krieges erzeugt hat; der meiner Meinung nach für Kennedys Tod verantwortlich war und uns Reagan beschert und Amerika an den Rand des Bankrotts gebracht hat, wegen einer irrsinnigen Wettrüstung…
Am Anfang meines Films steht Präsident Eisenhower, einer der Militärs, ein Rechter. Und was hat er uns in seiner Abschiedsrede gesagt? Er hat uns ins Auge geschaut und hat gesagt: ‚Hütet euch! Hütet euch vor der militärisch- industriellen Verfilzung.‘ Er warnte uns vor einem Sich-treiben-Lassen in den Faschismus. Das ist eine erstaunliche Rede; und das ist der Auslöser meines Films.
Am Anfang sind Ihre Helden oft unschuldig, fast naiv. Sehen Sie Ihre eigene Kindheit und Jugend auch so? Ist das ein verlorenes Paradies?
Ich glaube, das gilt für uns alle. Wir alle haben Erinnerungen der Unschuld. Man hat uns nie beigebracht, daß Kriege häufig von Geld motiviert sind. Wir wurden volljährig und glaubten an den Vietnamkrieg. Ron Kovic und ich und Millionen anderer gingen in den Krieg, um eine Vision Amerikas zu unterstützen, die sich als Lüge erwiesen hat. Wir wurden unser ganzes Leben lang belogen.
Und jetzt, da wir über 40 sind, sind wir wütend; wir versuchen, damit fertig zu werden, und wir versuchen, die Entwicklung umzudrehen. Aber wir kämpfen gegen eine George-Bush-Mentalität. Wie Sie in Deutschland gegen eine andere konservative Mentalität kämpfen.
Wie wurde es Mitte der achtziger Jahre möglich, über all diese Dinge zu sprechen?
Es ist nicht allgemein möglich; nur ein paar einzelne reden so. Ich hätte dies alles nicht sagen können, wenn ich nicht schon mit Platoon und Born on the 4th of July und Salvador Erfolg gehabt hätte. Das waren alles freimütige, ungeschminkte Filme, und das gab mir die Erlaubnis, dies zu sagen. Aber der Durchschnittsfilmemacher hätte große Schwierigkeiten .
Es kommt auf den einzelnen an, dies durchzusetzen. Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, die dieser Film in meinem Land bekommen hat. Zehn Millionen Menschen haben ihn in den ersten vier Wochen gesehen. Vielleicht glauben sie nicht alles, was behauptet wird; aber sie stehen voll dahinter, daß wir mit unserer Geschichte fertig werden müssen. Und sie wollen die Wahrheit wissen; sie wollen, daß die Akten freigegeben werden.
Ihren Film hat man als moralisch verwerflich bezeichnet; und das ist nicht das erste Mal. Wie werden Sie damit fertig?
Je größer der Feind, desto wertvoller die Arbeit, die man macht. Je lauter die protestieren, um so sicherer weiß man, daß man auf eine Spur gekommen ist. Ich glaube, ich habe einen empfindlichen Nerv getroffen in meinem Land. Ich glaube, ich bin an das Herz einer großen Lüge gekommen; der großen Lüge, die dem amerikanischen Volk erzählt worden ist. Das sieht man schon am Lärm, am Geräuschpegel. Die New York Times veröffentlichte 20 Artikel, die den Film angegriffen haben. Und Newsweek hatte ein Titelblatt à la Orwell, mit der Unterschrift: ‚Diesem Film darf man nicht vertrauen.‘ Wovor haben die eigentlich Angst? Es ist nur ein Film.