28. Januar 1993 | Interview | Jean-Claude Lauzon

Von der Furcht, ein Hochstapler zu sein

Gespräch mit dem kanadischen Regisseur Jean-Claude Lauzon

Jean-Claude Lauzon schaut nicht so aus, wie man sich den Regisseur seiner Filme vorstellt, und er redet nicht so, wie er aussieht. Eher schon nimmt man ihm den Regisseur von Werbefilmen ab, mit denen er sein Leben und Schreiben finanziert. Der Frankokanadier wird dieses Jahr vierzig und hat sich nach dem Erfolg von UN ZOO LA NUIT in Cannes fünf Jahre Zeit gelassen für seinen zweiten Spielfilm. Warum das so ist, hat er Michael Althen erzählt.

Warum haben Sie fünf Jahre für Ihren zweiten Film gebraucht, obwohl Ihr erster UN ZOO LA NUIT (NIGHT ZOO) ein Erfolg war?
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Film über den Tod ihres Vaters gemacht, Sie gehen nach Cannes und haben großen Erfolg – wie wollen Sie das wiederholen? Man hat schließlich nur einen Vater.
Es gibt ja auch noch andere Themen.
Der Druck, eine Geschichte zu erzählen, kann tatsächlich so groß werden, daß man sie an einem bestimmten Punkt in seinem Leben erzählen muß. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt: Es konnte also gut sein, daß ich nie wieder einen Grund finden würde, einen Spielfilm zu drehen. Außerdem kann sich Talent so schnell verflüchtigen.
Dennoch ist es wieder eine sehr private Geschichte geworden. Wieso hat sich Ihnen die nicht schon früher aufgedrängt?
Es gab tausend Gründe, warum ich LÉOLO nicht machen wollte. Weil es ein Film über Kindheit und Armut war, und ich nicht an meine Kindheit oder unsere Armut erinnert werden wollte. Darum schob ich ihn dauernd vor mir her. Wissen Sie, wovon ich eigentlich träume? Ich träume davon, Luc Besson oder Jean- Jacques Beineix zu sein und Filme mit schönen Frauen zu machen. Es ist verrückt, aber daran denke ich die ganze Zeit und nicht an Geschichten, wo man in der Scheiße schwimmt. Ich habe mich also an anderen Projekten versucht, aber dieses Thema meiner Kindheit kehrte immer wieder. Trotzdem war ich erst nach fünf Jahren so weit, davon auch zu erzählen.
Was war das, was immer wiederkehrte? Bilder, Figuren, Episoden?
Als ich nach UN ZOO LA NUIT in Taormina auf Sizilien saß, war ich plötzlich sehr wütend, daß ich kein Italiener bin. Ich war so zornig, in eine so junge Kultur hineingeboren worden zu sein, daß ich wirklich um mich schlagen wollte: Warum, zum Henker, bin ich nicht Italiener? Da setzte ich mich an den Pool und fing an, über einen Jungen zu schreiben, der sich ärgert, kein Italiener zu sein. Und dann kam ein Satz hinzu: ‚Licht und Geruch sind meine ersten Erinnerungen.‘
Hatten Sie da schon die komplizierte Struktur des Films vor Augen?
Nein, ich nahm erst einmal einen Helden und zwei schöne Frauen und fragte mich, was die miteinander tun könnten. Aber während ich eine Bettgeschichte schreiben wollte, tauchte statt dessen das Gesicht meiner Mutter auf. Ich sagte zu ihr: ‚Sei still!‘ Aber das Bild kam immer wieder zurück. Das ist mein ewiger Konflikt. Obwohl ich vor der Armut fliehen will, komme ich nicht davon los. Als ich UN ZOO LA NUIT schrieb, wollte ich eigentlich einen modernen Film über Cops machen und über einen Musiker, der aus dem Gefängnis freikommt und mit verspielter Sonnenbrille Harley fährt. Ich wollte allen zeigen, daß ich einen wirklich modischen, attraktiven Film machen kann. Und plötzlich starb mein Vater, und er schlug mein Drehbuch auf und fragte mich, was ich da eigentlich mache. Also erschoß ich die beiden Polizisten und schrieb über den Tod meines Vaters.
Jetzt haben Sie einen Film über Ihren Vater und einen über Ihre Mutter gemacht. Es könne also sein, daß dies Ihr letzter Film ist?
Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, daß ich mehr als drei bis fünf solcher Filme in mir trage, wenn überhaupt. Nach LÉOLO empfand ich eine so unglaubliche Leere, daß ich dachte, mein Hirn würde sich nie wieder füllen. Ich bewundere Leute wie Woody Allen, die einfach einen Film nach dem anderen schreiben können. Ich kann es leider nicht.
Würde es da nicht helfen, einfach andere Drehbücher zu verfilmen, Geschichten zu erzählen, bei denen Sie nicht so involviert sind?
Filmemachen ist so ein Kampf, daß man schon verrückt sein muß, immer wieder in den Ring zu steigen. Besonders wenn man die Möglichkeit hat, sich einfach ins Flugzeug zu setzen und in die Wälder zu fliegen.
Orson Welles hat mal gesagt, Filmemacher müßten wie Generäle sein, die Armeen befehligen.
So ist es. Es war, als wäre ich jeden Morgen mit einer automatischen Waffe an den Drehort gekommen, an jeder Seite zwei Magazine voller Munition, zwei volle Magazine mit Antworten für alles und jedes. Die ganze Nacht habe ich sie mit den Antworten geladen. Und noch bevor ich den erste Kaffee fertig getrunken hatte, waren die ersten anderthalb Magazine verschossen.
Hatten Sie denn dann für den restlichen Tag genügend Antworten übrig?
Man hat immer den Alptraum, daß man eines Tages vor all den Leuten steht, wie ein Baby heult und jammert: Was soll ich bloß tun? Es gibt immer die Furcht, daß irgendwann die Leute dahinterkommen, daß man ein Hochstapler ist; daß man in Wirlichkeit gar nicht weiß, was man da eigentlich tut.
Hat Ihnen der Erfolg da nicht Sicherheit gegeben?
Truffaut sagte mal, mit Fehlschlägen lasse sich viel leichter leben als mit Erfolgen. Und das ist auch so. Erfolg hat mir keine Antworten auf meine Ängste gegeben. Während ich in meiner Jugend dachte, irgendwann werde ich es allen zeigen, stand ich dann in Cannes vor den stehenden Ovationen und mußte mich zur Freude zwingen, weil ich schon wieder daran dachte, daß ich in drei Wochen wieder allein sein werde, allein mit den Ängsten vor dem leeren Papier.
Hassen Sie die Einsamkeit?
Ich liebe die Einsamkeit – wenn ich in die Wälder gehe. Aber die beim Schreiben, die hasse ich. Da schnappe ich leicht über.
In den Wäldern nicht?
Nein! Um drei Uhr morgens aufzuwachen, sich im Holz zu verstecken, dann einen Bär oder einen Elch zu sehen, das ist das Größte. Einmal habe ich sechzehn Tage in einem Baum auf einen Hirsch gewartet, ehe er nahe genug war, daß ich ihn mit Pfeil und Bogen erschießen konnte. Das ist wie Meditation, man wird zum Tier. Und wenn das Tier dann kommt, dann weiß ich, wie die Menschen früher, die Indianer etwa, gefühlt haben müssen. Auch wenn ich ein sehr leidenschaftlicher Jäger bin, hat das mit Aggressivität nichts zu tun, sondern mit Wirklichkeit und Wahrheit. Dann kriegt man ein Gefühl, das nicht mit Stärke zu tun hat, sondern damit, daß sich etwas auftut, was wahrhaftig ist. Dieses Warten ist die einzige Zeit, wo ich nichts fühle, wo ich mich entspanne und ohne Angst bin.

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