21. Januar 1999 | Süddeutsche Zeitung | Interview | André Techiné

Die Erschütterungen des Körpers

André Téchiné erzählt, wie er Juliette Binoche wieder zum Leben erweckt hat


SZ: Erinnern Sie sich, was Sie empfanden, als Sie zum ersten Mal Paris sahen?

André Téchiné: Ich komme aus einem Dorf in Südwestfrankreich. Paris war für mich die Flucht aus der Provinz und aus einem Milieu, das ich erdrückend fand. Paris bot die Möglichkeit für Begegnungen und Überraschungen, und ich war gierig darauf, weil es beides auf dem Land nicht gab. Ein anderes Mittel zur Flucht war das Kino. Schon früh habe ich mich von der Magie des Kinos verführen lassen, und genauso früh wußte ich, daß ich um jeden Preis Filme machen wollte. Trotz der unvermeidlichen Niederlagen und Enttäuschungen, die man auf diesem Weg erlebt, habe ich von meinem Wunsch nie abgelasssen.
Und wie fühlen Sie sich heute, wenn Sie in die Provinz zurückkehren?
Wenn ich jetzt in die Provinz zurückkehre, dann nur mit der Kamera. Ich benutze das Kino, um meine schicksalshaften Wurzeln dort zu erforschen. Man hat ja nicht wirklich die Wahl, sich von seinen Ursprüngen zu lösen. Paris ist zwar der Ort, wo ich wohne, aber kein absolutes Exil, weil ich meine Herkunft ja nicht ignorieren kann. Das Ganze ist eine Art Koexistenz, sozusagen als Kind und Erwachsener zugleich. Ganz gleich, wie alt ich werde – dieses Kind in mir wird es immer geben.
Sind diese Wurzeln eine Art Wunde, die nie richtig verheilt?
Ich glaube, daß diese Wurzeln der Motor sind für das Exil. Keine Frage, daß es sehr wichtig ist, diese Wurzeln zu durchtrennen – aber auch, zu ihnen zurückkehren. Zum Beispiel durchs Kino. Bei „Alice & Martin” habe ich allerdings den Eindruck, daß es nicht so sehr um den Gegensatz Paris – Provinz geht, sondern um eine Reise, in der die Provinz gleichzeitig Berge, Meer, Land und Stadt ist. Dieser Wechsel ist ganz wichtig. Wenn Martin den Menschen entfliehen und zum Tier werden will, hat das mit Provinz nichts zu tun, sondern mit Natur. Und wenn er am Meer ist, geht es mehr um die Vorstellung von Unendlichkeit. Diesmal spiegelt die Landschaft die inneren Landschaften meiner Figuren.
Die einzigen Beziehungen, die in Ihren Filmen zu funktionieren scheinen, sind Zweckgemeinschaften. Was nicht funktioniert, ist die Liebe – und was noch schlechter funktioniert, ist die Familie.
Meine Beziehung zur Liebe läßt sich bei aller Verschiedenheit der Filme auf die Frage reduzieren: „Existiert die Liebe überhaupt?” Das ist wie die Frage nach Gott. Aber in ALICE & MARTIN gibt es eine moralische Gewalt der Liebe, die dazu führt, daß Alice alles für ihn machen will. Das ist es, was Liebe im moralischen Sinn bedeutet: „Alles für den anderen tun. ” Das ist die Arbeit, die man leisten muß, der Liebesdienst, den sie ihm erweist.
Das Heiligenbild
Sie haben nach langer Pause nun wieder mit Juliette Binoche gearbeitet. Können Sie sagen, wie sie sich verändert hat?
Zur Zeit von RENDEVOUZ war Juliette Anfängerin. Sie hatte viel Energie und guten Willen, aber kein Unterscheidungsvermögen. Sie stürzte sich blind in ihre Rolle. Jetzt ist sie technisch reifer und virtuoser und weiß, was sie mit ihrem Körper und ihrem Gesicht machen kann. Sie meistert ihr Spiel mit mehr Reife und hat sich doch eine Leidenschaft erhalten, die jetzt allerdings rationaler funktioniert. Damals hat ihre Arbeit ihr Leben ausgefüllt, jetzt gibt es eine – notwendige – Distanz. Es gibt bei Schauspielern, besonders bei Frauen, oft die Gefahr – vor allem bei Rollen, die bis an den Rand des Wahnsinns gehen –, nicht zu wissen, wie man wieder zurückkehrt zum Alltag, zu einer Identität, die nicht die der Rolle ist. Marilyn Monroe und Vivien Leigh konnten das irgendwann nicht mehr. Juliette weiß sehr gut, wie weit sie gehen kann und wie man wieder zurückkehrt. Damals mußte man ihr noch helfen. Da war sie in Gefahr, sich zu sehr zu entblößen. Vielleicht hat sie deshalb damals die Nacktheit, die in bestimmten Szenen erforderlich war, akzeptiert, und in ALICE & MARTIN hat sie es abgelehnt, sich auszuziehen.
Man hat ja den Eindruck, daß sie von Ihnen sozusagen wiedererweckt wurde. Sie hatte zuletzt eine Art Maskenhaftigkeit entwickelt, die sie hier abgelegt hat.
Sie hat in der Tat einen Hang zum Heiligenbild, zur Ikone. Mir schien das etwas realitätsfern. Darum wollte ich sie hier so erdverbunden und vital wie möglich. Tatsächlich hatte ich auch bedauert, daß sie – etwa im „Englischen Patienten” – nicht mehr redete, stumm geworden war – und ich hatte Lust, diese Stimme wiederzufinden. Jetzt redet sie umso mehr und umso deftiger, so wie einst Arletty. Und das ist das Gegenteil eines Heiligenbildes. Ich wollte sie so trivial, menschlich, fleischlich wie möglich.
Ihre Filme erzählen stets, wie die Leute auf teils sehr schmerzhafte Weise ihren Körper entdecken.
Das Erschütterungen des Körpers, die Metamorphosen des Körpers möchte ich mit der Kamera erforschen. Das ist es, was mich im Kino am meisten interessiert. Diese körperlichen Veränderungen kommen ja dem am nächsten, was man Emotion nennt (wenn man Emotion von Sentimentalität trennt). Wie Juliette hier die Veränderungen des Körpers durch die Mutterschaft zeigt, das hat sie sehr gut hingekriegt. Sie besitzt ja diese Schamhaftigkeit, die manchmal das Risiko birgt, sie etwas abstrakt erscheinen zu lassen – da muß man wachsam sein und sie immer wieder zum Leben hinführen, zur Erde hin… Sie sehen schon, ich habe die Tendenz, mich bei diesem Thema leicht zu versteigen.
Kälte spielt ja eine große Rolle bei Ihnen. Es gibt immer wieder Szenen, wo es schneit. Steht das schon im Drehbuch?
Daran denke ich gar nicht. Das ist völlig instinktiv. Wenn ich schreibe, denke ich nicht an meine Themen, aber es stimmt, daß das Bedeutung hat. Aber das fällt mir nur ein, weil Sie es gerade sagen.
Auch bei einer so zentralen Szene wie der, wo Martin als Kind am Fenster steht und es schneit?
Das waren Ideen, die gekommen sind, als wir gedreht haben. Der Schnee ist für mich ein Geheimnis der Kindheit gewesen. Ich wollte, daß der Schnee, wenn sich das Kind vor offenem Fenster auszieht, etwas Märchenhaftes, fast Unwirkliches hat; daß man sich fragt, ob er zu seiner Mutter zurückkehren, sich aus dem Fenster stürzen oder seinem Vater widersetzen wird.
Ist das Drehbuch für Sie also nur eine Skizze?
Am Anfang wurde chronologisch gedreht, erst im Schnitt habe ich alles umgedreht und den Flashback eingeführt. Ein Film ist nicht die Illustration eines Drehbuchs; das Drehbuch ist nur Trampolin. So habe ich die Figuren auch erst richtig entdeckt, als ich sie leibhaftig vor mir sah. Die Szene, die mir zum Beispiel am besten gefällt, ist jene, wenn Martin versucht, Alice zu erwürgen. Das stand nicht im Drehbuch, das kam erst bei den Dreharbeiten, weil ich mich von den Schauspielern habe überraschen lassen. Bevor ich eine Szene drehe, vergesse ich das Drehbuch, weiß weder, was vorher war, noch was danach kommen wird, und drehe jede Szene wie einen Kurzfilm. So versuche ich, jeder Szene ihren besonderen Moment zu entreißen.

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