20. September 2001 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Essay | nach 09 / 11

Ein Schuft ist, wer Böses dabei denkt

Die Errettung der Realität

Alles muß auf einmal anders werden. Man hat Kinostarts verschoben, Fernsehprogramme umgestellt, Drehbücher umgeschrieben, und überhaupt klingen alle so, als hätten sie plötzlich Kreide gefressen. Weil die meisten Kommentatoren sich bei der Tragödie in den USA an schlechte Filme erinnert fühlten, ist man seither in Hollywood und den angeschlossenen Sendeanstalten ganz schuldbewußt und nimmt die sogenannten schlechten Filme erstmal aus dem Programm. Das kann man natürlich Pietät nennen – und vermutlich ist es auch ganz einfach nur ein Respekt vor den Toten.

Man darf sich aber trotzdem fragen, ob nicht gerade solche Momente ganz gut geeignet wären, das spekulative Moment der Katastrophenfilme aller Art zu desavouieren. Wem es also darum geht, die Frivolität der diversen Horrorszenarien bloßzustellen, der könnte den Zuschauern auf aller Welt eine Lektion erteilen. Nie wieder wird die Weltbevölkerung so sensibilisiert für Leid und Schrecken sein wie in diesen Tagen. Die Abstumpfung gegen alle Formen der Gewalt ließe sich jetzt so wirksam wie nie bekämpfen. Wenn im Kino Hundertschaften für den nächstbesten Effekt dahingemetzelt werden, sind wir mittlerweile geneigt, vom einzelnen Unglück zu abstrahieren – wer jetzt „Independence Day“ sähe, würde die Bilder wohl kaum als collateral damage verdrängen. Wer dem Kino nun so leichtfertig eine Teilverantwortung zuschiebt, der hätte jetzt die einmalige Chance, dem Publikum vorzuführen, was er meint.

Die Frage ist nur, ob es nicht viel obszöner ist, im Fernsehen die Bilder der Katastrophe mit elegischer Schmusemusik zu unterlegen und zum Abspanntrailer, zum Trauerclip zu verwursten. Allerorten begegnet man dieser televisionären Pietà, welche die blutige Realität zu einer Reihe abgeschmackter Leidensgesten verkommen läßt. Wenn auf diese Weise die Wirklichkeit sehenden Auges in einen schlechten Film verwandelt wird, muß man wirklich keine Sorge haben, eben jene schlechten Filme könnten durch ein Übermaß an Realitätsbezug irgendjemands Empfinden verletzen. Wenigstens muß sich das Kino nicht der Heuchelei bezichtigen lassen.

Besonders apart ist in diesem Zusammenhang die Meldung, wonach bei amerikanischen Radiosendern eine Liste mit 150 Songs zirkulieren soll, über die ein Abspielstop verhängt wurde. Darunter finden sich Led Zeppelins „Stairway to Heaven“, Queens „Another One Bites the Dust“, Steve Millers „Jet Airliner“ und – hier wird es geradezu frivol – Gerri Halliwells Remake von „It’s Raining Men“. Da kann man nur noch sagen: Ein Schuft, wer Böses dabei denkt. Da darf man sich dann nicht wundern, wenn die verordnete Trauerarbeit irgendwann nach hinten losgeht und sich gegen den Anlaß selbst wendet.

Wird man die Lieder und Bilder je wieder mit derselben Unvoreingenommenheit konsumieren können? Oder liegt fortan der Schatten der Realität auf ihnen? Es ist dann gottseidank so, daß die Realität immer noch ihre eigenen Wege hat, sich mitzuteilen. Wenn man sich die Vielzahl der Davongekommenen und die Menge der Betroffenen auch nur annähernd vorstellen kann, dann drängt sich die Vermutung auf, daß das Unglück wie eine Kernschmelze ein solches Übermaß an erzählerischer Energie freisetzen wird, daß all die tausende und abertausende von Geschichten in den kommenden Wochen und Monaten an die Oberfläche drängen werden – und jedes einzelne Schicksal ein Schlag ins Gesicht der Fiktionen sein wird. Das Kino wird sich vielleicht wieder mehr mit dem Leben selbst befassen müssen, wenn es seine Glaubwürdigkeit bewahren will.

Die New Yorker selbst gehen die Sache einstweilen ganz pragmatisch an und haben bereits wieder die ersten Drehgenehmigungen für ihre Stadt erteilt.

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