13. September 2001 | Süddeutsche Zeitung | Essay, Leben | 11. September 2001

Der Schrecken der Medusa

Vom Ende der Fiktionen: Wie das Kino die Hierarchien der Wahrnehmung verschoben hat, in denen die furchtbarste Realität nur noch als Simulation vorstellbar ist

Die Fernseher liefen. Die Türme standen noch in Flammen. Jedes Wort war zuviel. Aber man konnte in den Augen derer, die ahnungslos hinzukamen, ablesen, was in ihnen vorging. Für Momente spiegelte ihr Blick die schwache Überzeugung, nur einen Spielfilm zu sehen, den verzweifelten Versuch, die Bilder durch jene Brille zu sehen, mit der wir üblicherweise auf Hollywood blicken, und schließlich die Kapitulation der Hoffnung, man befinde sich womöglich nur im falschen Film. Dann dämmerte ihnen die schreckliche Wahrheit, ihre Blicke wurden stumpf, und ein Trauerrand legte sich um das Gesehene.
Man konnte es an sich selbst überprüfen: Wie oft die Gedanken an diesem Tag versuchten, sich ins Reich der Fiktionen zu flüchten, wie oft man den Raum verließ, im unsinnigen Glauben, bei der Rückkehr werde sich der Spuk verflüchtigt haben.

Panisch tasteten die Augen den Bildschirm ab auf der Suche nach Indizien, dies alles sei nur eine schreckliche Inszenierung, aber die Bilder behaupteten hartnäckig ihre Realität. Auch wenn die ersten Wiederholungen vom Einschlag des zweiten Flugzeugs aussahen, als seien sie in aller Eile an einem Schnittcomputer simuliert worden. Seltsam unproportional erschien die Flugzeugsilhouette, unnatürlich dunkel auch, als läge bereits der Schatten kommenden Unglücks auf der Maschine. Und die Explosion, die Momente später auf der anderen Seite des South Tower zum Vorschein kam, sah eben auch aus, als sei sie aus irgendeinem Archiv dem Gebäude übergeblendet worden. Im Grunde sah die Wirklichkeit so schrecklich unprofessionell aus, daß wir nicht an sie glauben mochten.

Man hatte das – man verzeihe den Ausdruck – tausendmal besser gesehen. Oder vielleicht sollte man sagen: professioneller, sauberer, glaubwürdiger. Das fängt bei „Towering Inferno“ an und geht über den „Medusa Touch“, in dem Richard Burton einen Jet in ein Haus stürzen läßt, und die „Die Hard“-Serie bis zu der Untergangsphantasie von „Fight Club“. Seither glauben wir zu wissen, wie es aussieht, wenn ein Wolkenkratzer von Explosionen erschüttert wird, in Flammen aufgeht, in sich zusammenstürzt – es sieht wirklicher aus. Das mag frivol klingen in solchen Momenten, aber es zeigt vor allem, wie schnell unsere Wahrnehmung dorthin flieht, wo sie Anhaltspunkte für das Unfaßbare findet, als Einstiegsluken in ein Ereignis, das so undurchdringlich ist.

Man sah also Flug 175 der United Airlines, der von Boston auf dem Weg nach Los Angeles war, in das World Trade Center stürzen. Wieder und wieder und wieder. Man kann, auch das muß gesagt werden, bei solchen Katastrophen gar nicht genug bekommen von diesen Bildern. Das mag unanständig klingen, so ein Desaster zu einer Peep-Show unserer Schaulust zu degradieren, aber es ist nichts als der verzweifelte Versuch, diese auf immer schicksalhaft verschmolzene Einheit von Ursache und Wirkung zu durchdringen. Als könnte man das Gesehene noch einmal fein säuberlich auseinanderfalten, auf daß sichtbar werde, was sich hinter Rauchwolken dem Verständnis entzieht.

Gegen Abend gab es eine zweite Perspektive, in der sich das Flugzeug in einer kühnen Kurve von hinten dem Turm nähert, und später weitere Amateuraufnahmen, die der Katastrophe immer näher auf den Leib rückten, von unten, von der Seite – und jedesmal dasselbe unvorstellbare Bild des nun doch silbrigen Flugzeugkörpers, der auf die Glaswand trifft, um Sekundenbruchteile später auf der anderen Seite als Feuerball wieder auszutreten. Bilder, die bei allem Schrecken von jener schaurigen, surrealistischen Schönheit waren, wie sie Guillaume Apollinaire in der Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch erkannte. Auch das ist vielleicht eine natürliche menschliche Reaktion, daß der Blick nicht nur vom Entsetzen gebannt wird, sondern auch von einer bizarren Anziehungskraft, die man in Ermangelung anderer Begriffe eben Schönheit nennen muß. Das nimmt dem Erschrecken und der Trauer nichts von ihrer Wahrhaftigkeit, sondern ist ein quasi unwillkürlicher Reflex auf das Unerwartete, eine unwillkommene Reaktion auf die Tatsache, daß wir Zerstörung und Verfall mit einer gewissen morbiden Faszination begegnen.

Die Vervielfältigung der Perspektiven, die sich im Laufe der Nacht ergab, trug allerdings nichts zur Durchdringung der Katastrophe bei. Aus welchem Blickwinkel auch immer man den Aufprall betrachten konnte, er entzog sich stets jeder Erklärung. Und auch aus tausend Aufnahmen gespiegelt, werden wir jedesmal geblendet den Blick abwenden müssen. In einer Explosion wie dieser werden die Dinge ununterscheidbar, überstrahlt von der Singularität des Vorfalls, der anfangs auch durch seine Tonlosigkeit so gespenstisch wirkte. Aber natürlich läßt sich nicht vermeiden, daß unsere Imagination die Lücken ausfüllt, daß wir versuchen, uns die letzten Sekunden des Flugs 175 vorzustellen, die Piloten, die dahingemetzelt wurden, die Passagiere, die im Bewußtsein einer Entführung von der letzten fatalen Kurve in die Sessel gedrückt werden, und die Irren am Steuerknüppel, die wie einst die Kamikaze-Piloten mit einem letzten Triumphschrei auf eine gläserne Wand zufliegen, die eine Sekunde lang den Wahnsinn ihres Unternehmens spiegelt, ehe sie Momente später in Millionen Scherben zerspringt und das schrecklichste Bild von allen mit in den Abgrund trägt: die Nase des Flugzeugs, das auf ein Haus zufliegt, in dem sich Zigtausende Menschen befinden, deren Schemen womöglich in dieser längsten Sekunde hinter dem Spiegelglas kurz sichtbar werden. Möge dies das Bild sein, mit dem sie in der Hölle schmoren.
Fast fühlt man sich schuldig, mit dieser Phantasie in den Abgrund des Entsetzens hinabzulangen, aber das Kino hat uns gelehrt, mit solchen Bildern umzugehen – nicht daß man sie deshalb besser verarbeiten könnte, aber man wendet sie unwillkürlich an. Es gab einen Moment, als auch noch das Pentagon zu brennen begonnen hatte, da lief auf CNN eine Schrift durchs Bild, die sagte: „Major American cities under attack“ – da hätte es plötzlich auch nicht mehr überrascht, wenn wie in „Mars Attacks!“ grüne Männchen durchs Bild gelaufen wären. Womöglich ist das ja auch eine Art Voodoo, mit der heutige Generationen versuchen, den Schrecken zu bannen: der Hubschrauber, der in „The Matrix“ auf sein eigenes Spiegelbild in der Glasfassade zurast; der Riesenaffe King Kong, der im Remake die Türme des World Trade Center besteigt; Godzilla, der in den alten japanischen Filmen die Hochhäuser zertrampelt wie in einer Spielzeugstadt. Genauso hat man sich daran gewöhnt, am Computer die Katastrophen durchzuspielen: in „Sim Tower“ den Notfall zu simulieren oder gar mit dem Flugsimulator ins nächstbeste Gebäude zu rauschen. Das hat womöglich die Hierarchien der Wahrnehmung verschoben, in denen die Realität irgendwann auch nur noch als Simulation vorstellbar ist.
So sehen wir in den Aufnahmen aus den Straßenschluchten, in denen Menschen beim Einsturz der Türme vor der herannahenden Staubwolke fliehen, die sie dann auf Parallelstraßen gnadenlos überholt und von der Seite überrascht, die Erinnerung an „Independence Day“ aufblinken, wo die Außerirdischen ein amerikanisches Wahrzeichen nach dem anderen in Schutt und Asche legen – und man fragt sich, inwieweit die Katastrophenfilme Hollywoods nicht auch Anschauungsmaterial für die Terroristen gewesen sein könnten. Nicht, weil ihnen die unschuldigen Fiktionen Ideen eingepflanzt hätten, die sie vorher nicht gehabt hätten, sondern weil sie das Augenmerk immer wieder darauf gelegt haben, daß Inszenierung alles ist. Daß ein Anschlag gegen die Wahrzeichen von Amerikas wirtschaftlicher und militärischer Macht, World Trade Center und Pentagon, um so wirkungsvoller ist, je telegener er in Szene gesetzt wird.

Der Himmel war blau, die Werktätigen auf den Beinen, und der erste Einschlag um 8.45 Uhr hatte die Kamerateams in Position gebracht. Achtzehn Minuten später der zweite Angriff, eine Stunde später das Pentagon, und nach Lage der Dinge hätte es dann auch noch Camp David erwischen sollen. Quasi live, in Echtzeit, vor einem Weltpublikum, das im globalen Stadion die Demütigung der Supermacht erleben sollte. Als handelte sich um ein Football-Match. (Der europäische Fußballverband Uefa hielt es offenbar genau dafür und ließ unter Berufung auf „Neutralität“ an diesem Abend allen Ernstes Fußballspiele austragen.)

Alles war also eine Frage der Inszenierung und des Timings. Das weiß man aus dem Kino – und es wird im Fernsehen täglich vervielfältigt. Man könnte sagen, daß Hollywood in den letzten Jahren die Latte für fatale Attraktionen immer höher gelegt hat, indem es jedesmal aufs große Ganze ging, wenn Amerika bedroht war, aber andererseits haben Katastrophenfilme immer Hochkonjunktur gehabt: als King Kong aufs Empire State Building kletterte; als in den Fünfzigern die Kommunisten in Gestalt von Außerirdischen die Welt bedrohten; als in den Siebzigern die Natur zurückschlug; und als in den Neunzigern noch mal die alte Produzentenweisheit, wonach ein Film mit einer Explosion beginnen und sich dann langsam steigern müsse, fröhliche Urständ feierte. Jedesmal betraf es die amerikanische Nation, die einen Stellvertreterkrieg für die ganze freie Welt führte. Und als Motor der Vergeltungswut diente dabei oft genug die Zerstörung von – auch am Dienstag abend so genannten – landmarks und icons des Landes. Die wiederum sind keine Erfindung Hollywoods, sondern werden von der Traumfabrik lediglich bedient, weil sich das ganze Land darauf geeinigt hat, seine Macht, Geschichte und Identität in solchen symbolischen Orten zu verschmelzen. Die Kinogeher dieser Welt haben gelernt, diese Auf- und Überladung von Schauplätzen zu verinnerlichen – die Terroristen auch. Während in Europa und vor allem in Deutschland solchen Symbolen im Zweiten Weltkrieg ein für allemal ihr Mehrwert ausgetrieben worden ist, da waren sie in Amerika intakt geblieben – bis vorgestern.
Aber die Amerikaner reagierten darauf so, wie sie es gewohnt sind – mit einer Gegeninszenierung. Der Kongreß sang „God Bless America“, der Präsident beschwor die Stärke Amerikas, sah die Fundamente des Landes unangetastet und ließ im übrigen verbreiten, er habe „a firm grip on this situation“, also alles fest im Griff, obwohl nichts der Wahrheit weniger entsprach als dies. Und ein Senator John Warner ließ sich sogar zu der Bemerkung hinreißen, dies sei zwar eine der tragischsten Stunden Amerikas, könne aber auch „our finest hour“ sein. Der Mann hatte offenbar einmal zu oft den patriotischen Schwachsinnsfilm „Pearl Harbor“ gesehen, dessen historische Folie an diesem Abend häufiger als Vergleich herhalten mußte, weil sie einst die Nation im Unglück ähnlich zusammengeschweißt habe. Das war zumindest die Lesart der Effektspezialisten aus Hollywood.

Aber dies war kein Film. It’s real. Es ist fast so, als habe die Realität sich auf makabre Weise die Lufthoheit über Hollywood zurückerobert.

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