07. April 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Fernsehen | Premiere World

Canale Grande

Vorläufiges Fazit eines Premiere World-Nutzers: Der Weg ins Filmparadies ist weit – aber er lohnt sich

Wenn man groß geworden ist mit fünf Programmen, also Zeiten erlebt hat, in denen man aus lauter Verzweiflung Telekolleg gucken musste, weil sonst nur das Testbild lief, dann ist man für das Konzept möglichst vieler Kanäle grundsätzlich empfänglich. Damals hätte man wahrscheinlich sein gesamtes Taschengeld geopfert für nur ein einziges Programm, das rund um die Uhr sendet – man hätte sogar gestohlen dafür.

Heute gibt es gut fünfmal so viel Programme, die alle rund um die Uhr senden, und wenn einst jemand prophezeit hätte, dass man trotzdem ganze Abende damit zubringen kann, vergeblich nach irgendwas zu suchen, was einem länger als nur ein paar Momente bei Laune hält, dann hätte man ihn mit Drehscheibe nicht unter zwei Jahren bestraft.

Heute würde man wahrscheinlich selbst diese ehemalige ZDF-Magazinsendung für eine kulturelle Errungenschaft halten – von den Seniorennachmittagen im ORF ganz zu schweigen. Aus irgendeinem Grund hat sich nicht erfüllt, was sich die Welt vom Privatfernsehen versprochen hat – Harald Schmidt mal ausgenommen. Manchmal hat man geradezu den Eindruck, das gesamte Programm bestehe aus Werbeunterbrechungen und Mallorca-Reportagen, so dass man fast schon aufgegeben hat, den Fernseher überhaupt einzuschalten. Weil aber frühkindliche Erlebnisse bekanntlich für ein ganzes Leben prägend sind – und die lähmende Langeweile von Telekolleg-Sendungen über Festkörperphysik war das in sehr hohem Maße –, steht man unbeirrt der Erweiterung des Programmangebots aufgeschlossen gegenüber. Und man ist auch nach wie vor bereit, sein ganzes Taschengeld zu opfern.

Premiere World also. Großartig. Doppelt so viele Kanäle, keine Werbeunterbrechungen und keine Mallorca-Reportagen. Sofort angerufen. Leider besetzt. Und nochmal und nochmal und… Selbst um vier Uhr in der Früh waren sämtliche Leitungen besetzt. Das war im Oktober. Ende November, nach geschätzten 500 Versuchen endlich durchgekommen. Mitte Dezember Brief bekommen, dass sich die Auslieferung leider verzögert. Februar Decoder gekriegt. Doch so bald schon. Egal.

Das Ding ist vergleichsweise einfach zu installieren, und schon hat man gut zwanzig neue Kanäle sowie flächendeckend alle weiteren dritten Programme der Öffentlich-Rechtlichen. Im März kommt dann die Nachricht, dass man nochmal fünf weitere Kanäle für eine Schnupperphase programmieren könne. Schnupperphase? Wird sofort gemacht. Daraufhin stürzt der Decoder ab und alle mühsam vorgenommenen Programmierungen sind gelöscht. Der Apparat geht sogar so weit, zu behaupten, er könne überhaupt keine Kanäle mehr finden. Verzweiflung. Am nächsten Morgen sind die Kanäle wieder da.

Aber die fünf Zusatzprogramme kann sich Premiere fürs erste an den Hut stecken. Solche – wie Sportreporter das nennen würden – Nickligkeiten sollten natürlich nicht von der Pracht der neuen Programmvielfalt ablenken. Schon beim ersten Blick ins Programm bekommt man hektische Flecken vor Begeisterung, und die Familie schwört gemeinsam vor dem Fernseher, Abends nicht mehr auszugehen und fortan nur noch Premiere World zu gucken. Das hätte auch den Vorteil, dass man mit dem gesparten Geld die strammen Abo-Gebühren finanzieren könnte.

Tatsächlich läuft dort an einem Tag, was das Restprogramm an drei Weihnachtsfeiertagen nicht bieten kann. Beispiel gefällig? Hier eine Auswahl des Freitag-Programms: Bei Anruf Mord von Hitchcock, Alles über Eva mit Bette Davis, Der Wolf hetzt die Meute mit Clint Eastwood, Ein Offizier und Gentleman sowie Sommersby mit Richard Gere, Die Teufelsbrigade mit Gary Cooper, Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen von Claude Chabrol, Julia mit Jane Fonda, Mit Leib und Seele von John Ford, 91/2 Wochen, Flubber, Kundun, Zugvögel, Schlaflos in Seattle – locker hundert Filme. Und am nächsten Tag hundert andere. Das ist fast schon wieder zu viel – so dass man nach einiger Zeit den Schwur bricht und doch wieder anfängt, auszugehen.

Was auf Premiere World läuft, passt auf keinen Videorecorder. Da ist man dann schon glücklich, dass sich die Filme natürlich auch wiederholen. Warum allerdings die Premiere-Zeitschrift nirgends das Programm nach Filmen sortiert, so dass man sehen kann, wann die einzelnen Filme laufen, weiß der Teufel. Für fast 70 Mark im Monat kann man das schon erwarten.

Womit wir wieder bei den technischen Feinheiten des Decoders wären. Fortschritt bedeutet ja immer, dass auf zwei Schritte nach vorne einer zurück folgt. So wie die Erfindung des Handys dazu führte, das Telefonate jetzt wieder klingen, als sei noch das Fräulein vom Amt dazwischen geschaltet, dauert das Zapping bei Premiere World etwa so lang wie vor dem Aufkommen der Fernbedienung der Gang zum Fernseher, um auf ein anderes Programm umzuschalten. Wer glaubt, er könne von einem Film schnell mal auf ein Fußballspiel umschalten, um zu sehen, wie es steht, hat sich geschnitten – in der Umschaltphase kann man sich beinahe schon ein Bier holen gehen.

Es wird ja immer damit geworben, man könne sich fortan Formel 1 aus verschiedenen Kameraperspektiven ansehen. Nach ersten Erfahrungen mit der Bedienung kann man davon ausgehen, dass das wahrscheinlich dazu führt, dass man die Zieldurchfahrt verpasst.

Das sind so gewisse Handicaps, die mit der Zukunft einhergehen. So wie die Tatsache, dass man nicht in Premiere herumschalten kann, während man Premiere aufnimmt. Oder dass man den Decoder nicht so aufstellen kann, dass sich in Wohn- und Schlafzimmer Premiere ansehen ließe – mal abgesehen davon, dass man dafür mit der Fernbedienung von einem Zimmer ins andere flitzen müsste. Und wenn wir schon dabei sind, ließe sich noch anmerken, dass erstaunlich häufig die Filme asynchron laufen – die Schauspieler klappen stumm ihren Mund auf, ehe mit Verzögerung auch die Stimme dazu folgt. Woran das technisch liegen mag, ist mir völlig schleierhaft, weil Bild und Ton ja nicht getrennt eingespeist werden – aber es stört jedenfalls. Andererseits erscheint das Bild besser als bei anderen Sendern, satter, farbiger, schärfer. Die Geheimnisse des Decoders sind unergründlich.

Was bleibt, ist das Bedauern, dass es so etwas wie Premiere World nicht schon früher gegeben hat, als man noch Zeit zum Fernsehen gehabt hat. Und halbe Ewigkeiten vor dem Testbild auf den Programmbeginn wartete.

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