01. Juli 1985 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Festivals | Filmfest München 1985

Der Weg zur Wahrheit ist nie der leichteste

Die Dokumentarfilme auf dem Filmfest München

Das Dokumentarische tauchte in manchen Filmen ganz unvermutet auf. Etwa in Maurice Pialats A NOS AMOURS, dessen Art der Tonführung den Bildern eine ungewohnte Authentizität verlieh. Nicht weil der Direktton sich besonders realistisch anhört, sondern weil er auf den Dokumentarfilm verweist, mit dem man im allgemeinen das Authentische, Wahrheitsgetreue und Echte verbindet. Diese mehr oder weniger bewußt gestellten Ansprüche sind es, mit denen sich das Publikum oft selbst den Zugang zum Dokumentarfilm verstellt. Was nicht stört, solange die Kinos so voll sind wie auf dem Filmfest.

Der Dokumentarfilm wurde in keiner eigenen Reihe gezeigt, sondern lief über das ganze Programm verteilt, bei den Independents, auf dem Filmfair oder bei den deutschen Filmen. Wobei die Inhaltsangaben nicht immer deutlich machten, ob es sich um Dokumentar- oder Spielfilm handelt. Wer könnte zum Beispiel ahnen, daß es sich bei LATINO, einer Geschichte aus Nicaragua, um einen Spielfilm, bei STREETWISE jedoch um einen Dokumentarfilm handelt? Auf diese Weise erreicht man allerdings, daß diese nichtfiktiona-len Filme aus ihren Gettos befreit und beim Publikum Vorurteile abgebaut werden. Selbst Nachmittagsvorstellungen unbekannter Regisseure waren besser besucht als die meisten Spielfilme während des Jahres.

Der Film, an den die größten Erwartungen gestellt wurden, war Robert Epsteins THE TIMES OF HARVEY MILK, der dieses Jahr den Oscar für den besten Dokumentarfilm verliehen bekam. Daß er die Erwartungen erfüllte, lag weniger an seiner Qualität als an den Tränen, die manche Schwäche vergessen ließen. Epstein nähert sich in seiner Zusammenstellung von Interviews und Fernsehmaterial weniger dem Menschen als dem Mythos Harvey Milk. Der Film bemüht sich nicht um eine vielschichtige Darstellung des Menschen, sondern um den Aufbau von Sympathie für den ehemaligen Supervisor von San Francisco, der einer der schillerndsten und einflußreichsten Vertreter der Schwulen- und Lesben-Bewegung in den siebziger Jahren war. Die Musik, die über die Trauerprozession nach seiner Ermordung gelegt ist, steigert das Pathos der Darstellung zur Rührseligkeit, vermittelt aber auch die Ohnmacht, dieser charismatischen Figur nicht widerstehen zu können. Agitation ist halt eine wirksamere Waffe gegen die Ungerechtigkeiten unserer Welt als die Analyse: der Mörder, ein gutbürgerlicher Karrierist und Konkurrent Harvey Milks, wurde zu einer lächerlich geringen Haftstrafe verurteilt.

Agitiert wird auch in Joan Harveys A MATTER OF STRUGGLE, der von dem schwarzen Sänger Richie Havens erzählt, der durch die USA reist, um mit Gesinnungsgenossen gegen soziale Ungerechtigkeit und nukleare Aufrüstung zu kämpfen. Joan Harvey stellt die Verbindung zwischen beiden her. Was sicherlich richtig ist, aber dann zu weit führt, wenn ein Text zur außenpolitischen Aggressivität der USA unterlegt ist mit Bildern von der Queen, vom Papst, von Reagan UND Hitler.

Ganz anders Wolf-Eckart Bühler, der in seinem AMERASIA vermeidet, seine Figuren zu diffamieren, obwohl er es sich und den Zuschauern damit hätte leichter machen können. Aber der Weg zur Wahrheit ist nie der leichteste. Bühler verstellt uns nicht den Blick durch Vorurteile, erkundet statt dessen die verschiedenen Gesichter einer Wahrheit und weist nach, wie die GIs und die Südostasierinnen, die sie mit ihren Kindern haben sitzenlassen, von der gleichen Heimatlosigkeit getrieben werden; wie Schuld und Verdrängung in einen Teufelskreis münden, dem keiner entfliehen kann.

Wie Denkweisen Lösung von Problemen verhindern, kann man auch in Carma Hintons SMALL HAPPINESS sehen. Es geht um Frauen in einem Dorf 600 Kilometer südwestlich von Peking und vor allem um ihre Rolle in der Gesellschaft. Eine Änderung der Zustände ist solange nicht möglich, wie der Spruch, daß die Geburt eines Jungen ein großes, die eines Mädchens hingegen ein kleines Glück ist, auch von den Frauen akzeptiert wird.

Die Dokumentarfilme zeigten in diesem Jahr zumeist Künstlerporträts oder Schilderungen aus der Welt der sozialen und ethnischen Minderheiten, der Außenseiter und Ausgestoßenen. Der vielleicht schönste und erschütterndste Film über letztere Problematik war STREETWISE von Martin Bell, der so tief in die Welt der Straßenkinder eintaucht, daß mitunter Zweifel an seiner Authentizität aufkommen. Doch den Versicherungen des Regisseurs muß man glauben – er konnte immerhin unter idealen Bedingungen arbeiten, hatte Zeit und Geld zur Verfügung. Herumtreiber, Drogensüchtige und Prostituierte – keiner älter als 17 Jahre – ließen Bell zwischen und mit sich leben, erlaubten die ständige Anwesenheit der Kamera, daran Bilder Bell dann ganz undokumentarisch organisierte. Es entsteht eine Bewegung vom Dokumentarischen zur Fiktion, die Achternbusch in seinem Film BLAUE BLUMEN zum Stilprinzip macht. Seine Super-8-Bilder aus China sind nur noch Anreiz für die Fabulierlust eines Erzählers im Off – das Gezeigte verliert seine ursprüngliche Bedeutung und erhält durch die Erläuterungen eine neue. Im Dokumentarfilm wäre das gefährlich. Wahrscheinlich deswegen scheuen die meisten den Kommentar; als trauten sie den eigenen Worten nicht.

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