54. Festival du Film Cannes
Die Koffer der Erinnerung
Europas Kino lebt: Moretti und Haneke gewinnen in Cannes
Am Ende eines Festivals bleibt doch immer die Frage, was man mit nach Hause nimmt: Welche Szenen aus diesem Strom der Bilder haben sich im Ufergebüsch des Gedächtnisses verfangen? Und welche Filme lassen sich nicht über einen Kamm scheren, weil sie Gefühle wecken, die man so noch nicht erlebt hat? Wenn also die Koffer der Erinnerung gepackt werden, dann lässt sich nicht alles so problemlos verstauen. Ganz gleich, wie heftig man auf den Kofferdeckeln herumspringt, manches widersetzt sich und muss als Handgepäck mitgenommen werden: weil die entsprechenden Empfindungen einen nicht loslassen, weil sie uns doch zu nahe gegangen sind, weil sie sich nicht so einfach wegstecken lassen.
Wenn diese Momente aus Filmen stammen, die dann auch noch von der Jury einstimmig zu Preisträgern ausgerufen werden, dann wohnt ihnen wohl etwas inne, was ganz allgemein Eindruck hinterlassen hat. Und zwar womöglich auch jenseits der Frage, ob man die Siegerfilme nun gut oder schlecht gefunden hat. Die Verunsicherung, Verwirrung, Verstörung, die der Palmen-Gewinner „Das Zimmer des Sohnes” von Nanni Moretti und Michael Hanekes Jelinek-Verfilmung „Die Klavierspielerin”, die den Jury-Preis und die beiden Schauspieler-Preise bekam, hinterlassen haben, zeichnen sie doch vor allen anderen Wettbewerbsbeiträgen aus – auch vor den formal gewagteren, inhaltlich gewichtigeren, insgesamt womöglich gelungeneren.
Sex und Tod
Mag schon sein, dass Moretti in seinem Familiendrama über den Tod eines Sohnes nie von den ausgetretenen Pfaden abweicht, sich Szene um Szene an den bekannten Stationen der Trauerarbeit entlanghangelt – und doch kann sich den Emotionen kaum jemand entziehen, weil sie gerade in ihrer Geläufigkeit und Austauschbarkeit den Verlust so trostlos erscheinen lassen. Dass der Tauchunfall, bei dem der Sohn ums Leben kommt, von Moretti ausgespart bleibt, trägt noch zu jenem Gefühl der Leere bei, in das die Familie hinterher umso haltloser zu stürzen scheint. Es gibt nicht einmal den Trost der Anwesenheit, der Vergegenwärtigung, den das Kino sonst so gerne gewährt – dass man nicht dabei war, umgibt das Sterben mit einer undurchdringlichen Einsamkeit, die wie ein Vorwurf an die Überlebenden wirkt. Um das zu vertiefen, zeigt Moretti den Vater (von ihm selbst gespielt), wie er sich in einem Tauchsportgeschäft die diversen Gerätschaften vorführen lässt, als könnten die leblosen Ventile, Schläuche, Flaschen ihm den Zugang zum Tod erleichtern, ihm begreifen helfen, was so unwirklich erscheint. Aber vor dem Tod versagt alle Vorstellungskraft – darin liegt sein wahrer Schrecken. Und gerade im Kino liegt die überzeugendste Entscheidung darin, ihn auszusparen und keine Bilder dafür finden zu wollen – es sei denn jene Großaufnahme, wie sich die Schrauben mit enervierendem Geräusch in den Sarg drehen – eine nach der anderen, unbarmherzig, unwiderruflich, unvergesslich. Und wenn man dann jenes Bild dagegenschneidet, wo der Vater im Auto laut bei einem italienischen Schlager aus dem Radio mitsingt und die Familie nach und nach mit einstimmt, dann liegt die traurige Schönheit von „La stanza del figlio” womöglich genau in der herzzerreißenden Alltäglichkeit, mit der diese beiden Szenen gezeigt werden.
Im Grunde ist Haneke eine Art Gegenentwurf zu Moretti: Der hemmungslosen Subjektivität früherer Arbeiten des Italieners begegnet der Österreicher mit einer beißenden Objektivität, dem permanenten Ich Morettis stellt Haneke ein penetrantes Es entgegen. Und wo „La stanza del figlio” den Schrecken umschreibt, da blickt ihm „Die Klavierspielerin” mit unbewegtem Blick ins Auge. Das war schon in „Bennys Video” oder „Funny Games” kaum zu ertragen – und ist auch diesmal eine Herausforderung, der man sich aber bereitwilliger stellt, weil die Gewalt eher nach innen gerichtet ist, weil sich das Ganze leichter als Psychogramm lesen lässt – vielleicht aber auch nur, weil Isabelle Hupperts Person und Spiel eher dazu geeignet sind, als künstlerischen Akt zu verbrämen, was sonst bei Haneke durch unbekannte Gesichter zu quasi dokumentarischem Terror ausartete.
Man muss den Film nicht mögen, um zu erkennen, welch kluges Spiel er mit dieser Geschichte treibt. Die Klavierlehrerin, die unter dem Regime ihrer Mutter und der Musik zeitlebens ihre Gefühle unterdrückt hat, sieht in der unbeirrbaren Zuneigung eines Schülers die Chance, ihre masochistischen Phantasien auszuleben – und muss erfahren, dass sie nicht einmal ihre freiwillige Unterwerfung nach ihren eigenen Regeln gestalten darf. Womöglich liegt gerade in den Kurzschlüssen, die sich in diesem Film zwischen Hochkultur und Repression, Masochismus und Weiblichkeit ergeben, der Reiz des Films, weil Haneke ausreichend Bilder einstreut, die sich diesen Mustern nicht fügen wollen.
Da gibt es zum Beispiel dieses Bild am Schluss des Films, wenn sich Isabelle Huppert einen großes Küchenmesser in die Brust stößt und dabei ihr stets unbewegtes Gesicht für einen Moment lang zu so einer grässlichen Fratze des Schmerzes verzieht, dass man kurz an eine Sinnestäuschung glaubt. Oder die Szene, wo sie auf dem Badewannenrand hockt und sich mit einer Rasierklinge das Geschlecht versehrt, bis das Blut hinab in die Wanne tropft. Und dann ruft die Mutter von draußen, und die Tochter muss in der Eile alle Spuren beseitigen. Anders als das Blut mit der Duschbrause lassen sich solche Bilder nicht so leicht aus der Erinnerung wegwaschen.
Natürlich waren auch in diesem Jahr die amerikanischen Filme von David Lynch, Joel Coen oder Sean Penn, wenn man so will, besser, perfekter, runder, routinierter. Aber hinterher ließen sich alle Gefühle, die von ihnen geweckt wurden, ganz ordentlich in einem Koffer verstauen.