17. Mai 2001 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 2001 (4)

54. Festival du Film Cannes

Der Blick auf den Grund der Dinge

Schlimmer als die Hölle ist nur, eine Legende zu sein: „Eloge de l’amour”, Godards neuer Film beim Festival in Cannes

Einst hieß es bei Godard: „Liebling, ich gehe in den Krieg. Brauchst du was?” Und die Freundin des Soldaten antwortete, ja, sie brauche einen Lippenstift, einen Büstenhalter und dies und das. Und als der Soldat heimkehrte, hatte er all das mitgebracht. Aber es war nur ein Stapel Postkarten, nicht die Dinge selbst, sondern ihre Abbilder. Er begriff den Unterschied nicht.

Bevor man „Eloge de l’amour” sieht, hat man gute Lust, auch zu sagen: „Ich sehe heute den neuen Godard. Brauchst du was?” Und dann käme als Antwort: „Ja, ich bräuchte das Blinken der Lichter in der Pariser Nacht, das schüchterne Lächeln junger Mädchen, das Geräusch der Brandung am Strand und den Kondensstreifen eines Flugzeugs am Abendhimmel.” Und wenn man all das aus dem Kino mit nach Hause brächte, dann hätte man den Eindruck, es handle sich keineswegs nur um Abbilder, sondern um die Welt selbst. Gerade weil Godard den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrer Abbildung so deutlich macht, glaubt man, den Bildern plötzlich auf ihren Grund sehen zu können, auf den Grund der Dinge.

Als Jean-Luc Godard den Saal betrat, erhoben sich alle zur standing ovation, und man erinnerte sich an einen Satz aus „Alphaville”, in dem jemand zu Lemmy Caution sagt: „Sie werden etwas Schlimmeres als die Hölle erleiden müssen – sie werden zur Legende werden.” Nach Filmende standen nochmal alle auf – zumindest jene, die geblieben waren – und applaudierten zur Mitte des Saales hin, wo Godard stand. Gleichzeitig übertrug aber eine Kamera das Bild des Meisters auf die große Leinwand, auf der man Godard viel besser sehen konnte. Einen Moment lang verspürte man also den Impuls, sich applaudierend zur Leinwand zu drehen, was im nächsten Moment jedoch unsinnig erschien, denn wieso sollte man sein Bild beklatschen statt ihn selbst?

Das sind so Gedanken, die einem wahrscheinlich nur nach einem Godardfilm durch den Kopf gehen, weil man anderthalb Stunden miterlebt hat, wie das Selbstverständnis, welches die Welt und ihr Abbild, die Dinge und ihre Bezeichnungen zusammenschweißt, fortwährend in Frage gestellt wird. Und das ist gerade auf einem Filmfestival eine heilsame Lektion.

„Eloge de l’amour”, eine Ode an die Liebe also, wobei letztere in diesem Film seltsam fern ist. Fünf Jahre hat es gedauert, seit Godard nach „Forever Mozart” wieder einen Spielfilm gedreht hat – dazwischen lagen allerdings seine „Histoire(s) du cinéma”, eine Filmgeschichte, die dem Kino mit seinen eigenen Mitteln Beine machte. Und darin wurde klar, dass die Geschichten des Kinos von der Geschichte des letzten Jahrhunderts nicht zu trennen sind, dass gerade die Gedächtnismaschine Kino ein Vergessen nicht erlaubt und auch nicht verzeiht. Godard ist so etwas wie das Gewissen dieser Kunstform, in der die Gewissenlosigkeit zum guten Ton gehört. Der 71-jährige Schweizer ist eine Eastwoodfigur, ein einsamer Reiter, der gegen alle Anfeindungen und Zweifel an seiner Mission festhält – erbarmungslos.

Schatten im Innern

Es kann bei Godard allerdings leicht passieren, dass man vor lauter Bildern und Momenten, Sätzen und Gedanken den Film nicht mehr sieht. Er löst sich vor den Augen des Betrachters auf, um sich erst hinterher im Kopf wieder zusammenzusetzen. Aber wer sagt denn, dass die Anstrengung, die man anderen Kunstformen gegenüber aufzubringen bereit ist, ausgerechnet im Kino eine Zumutung sein soll? Manchmal möchte man zwischendrin aufstehen, Luft schnappen, die Sonne sehen oder den Regen spüren, aus Ratlosigkeit, aus Übermut, aus Begeisterung, um sich dann aufs Neue ins Dunkel zu stürzen, in diesen Strom von Bildern und Sätzen, die einen dorthin tragen, wohin die Gedanken sonst nur in Büchern oder vor Gemälden schweifen. Weil das aber nicht geht, versucht man aufzusammeln, so viel man tragen kann. Wie wäre es mit einem Satz wie diesem? „Sehen Sie, wie alles sich in meiner Geschichte auflöst, wie mir nichts bleibt als die Bilder dessen, was so schnell vergangen ist. Und ich gehe die Champs-Elysées hinab mit mehr Schatten als ein Mensch jemals mit sich getragen hat.”

Da ist der Film fast zu Ende, und er hat erzählt von der Jugend und dem Alter und dem eigenartig gesichtslosen Zustand dazwischen; von den Erinnerungen der Überlebenden des Zweiten Weltkriegs und den Versuchen der Amerikaner, sie sich untertan zu machen; und von dem Projekt eines Regisseurs, von der Liebe zu erzählen, und der Frage, ob das im Kino, im Theater, im Roman oder in der Oper am besten zu bewerkstelligen sei. Dass daraus ein Film entstanden ist, bedeutet nicht, dass die Frage damit aus der Welt sei.

Godard hasst, das betont er immer wieder, alle vorgefertigten Gewissheiten. Vage Ideen genügen ihm, sich auf das Abenteuer eines Films einzulassen, und hinterher befragt er sein Material, seine Bilder, Töne und Notizen, und lässt sich von ihnen eine Geschichte erzählen. In einem Interview mit den Cahiers du cinéma hat er erzählt, dass einmal bei einer Übertragung eines Tennismatches zwischen Venus Williams und Jennifer Capriati der Kommentator ausgefallen sei und man nur noch den Originalton gehört habe, eigentlich ein Traum, weil er das Geschwätz der Sportreporter nicht ertragen könne: „Ich habe einen Moment gebraucht, bis ich das realisiert habe, und dann gemerkt, dass ich mit dieser Freiheit gar nichts anzufangen wusste. Wie ein Gefangener, der aus dem Gefängnis entlassen wird, und völlig vor den Kopf gestoßen ist. Im kinematorgrafischen Schaffensprozess verhindert der Kommentar ebenfalls jede Kommunikation mit dem Film. Niemand interessiert sich für die Fragen: Warum filmt man? Und wie filmt man? Alles ist vorher aufgeschrieben worden, und das Drehbuch ist nichts weiter als ein Kommentar zur Inszenierung, in der Form einer Geschichte.”

Homo kinematograficus

Im selben Gespräch sagt er auch, dass ihn die Rezeption der „Histoire(s)” etwas enttäuscht habe. Zwar hätten viele gesagt, wie großartig sie das Werk fänden, aber keiner hätte gewagt, die Auswahl oder Zusammenstellung seiner Bilder in Frage zu stellen. Im Grunde zeigt diese Aussage, wie weit Godard über allen Wasser schwebt, wie einsam er in seiner Fähigkeit ist, dem Kino seine eigene Melodie abzuringen. Denn selbst eingefleischte Fans sind allenfalls passagenweise in der Lage, dem Mann in einigem Abstand auf seinen Spuren zu folgen, und müssen sich ansonsten dem Ansturm der Impressionen und Fluss der Bilder überlassen, deren Abfolge in Frage zu stellen ihnen im Traum nicht einfallen würde. Vielleicht werden ja zukünftige Generationen jenen homo kinematograficus hervorbringen, der Godard dann gewachsen ist.

Fürs erste darf man sich mit der Bemerkung begnügen, dass er es mit „Eloge de l’amour” sich und seinen Zuschauern nicht leicht macht. Und dass das aber keine Rolle spielt, weil es das Kino sich und uns sonst nur allzu häufig leicht macht. So wandelt man durch diesen Film wie durch ein Museum, wo ja auch nicht jedes Bild die gleiche Aufmerksamkeit beansprucht, und ist glücklich, wenn man eine Einstellung sieht, die durch die Windschutzscheibe eines Autos bei Regen gefilmt ist, wo die entgegenkommenden Lichter zu bunten Punkten verschwimmen, die dann wieder vom Scheibenwischer gelöscht werden, um einem anderen impressionistischen Bild Platz zu machen.

Liebling, ich war in einem Film von Godard. Ich habe etwas mitgebracht: Es ist nur ein Bild, aber es ist so schön wie von Monet.

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