23. Mai 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 2000 (5)

Im Dunkeln

Zum Abschluss von Cannes

Es gibt keinen Grund zur Annahme, das Urteil einer bunt zusammen gewürfelten Jury, welcher von gut zwei Dutzend Filmen der Beste sei, sage irgendwas über den Zustand des Weltkinos aus. Zumal die Filmauswahl für den Wettbewerb wiederum solchen Eventualitäten wie dem Geschmack des Festivalchefs, dem Termin im Mai und diversen filmpolitischen Zwängen unterliegt. 24 Filme aus der Weltjahresproduktion genügen wahrscheinlich noch nicht einmal den Anforderungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wonach eine Stichprobe eine bestimmte Mindestgröße haben muss, um als relevant zu gelten. Von den Entscheidungen der Jury auf die Zukunft oder auch nur die Gegenwart des Kinos zu schließen, ist also ungefähr so zuverlässig wie die Vorhersagen der Auguren im alten Rom, nachdem sie die Innereien einer Gans untersucht haben.

Letztes Jahr hatte die Jury unter David Cronenberg ein Zeichen gesetzt, indem sie die minimalistische Charakterstudie „Rosetta” von den belgischen Brüder Dardenne den Favoriten von Kritik und Publikum vorzog – Pech für Pedro Almodóvar und David Lynch. Diesmal schlug sich die Jury unter dem Vorsitz von Luc Besson auf die Seite von Kritik und Publikum und krönte Lars von Triers Musical „Dancer in the Dark” und seine Hauptdarstellerin Björk – ein Glück für den Wettbewerb, der sonst auch nicht wirklich Alternativen anzubieten hatte. Zumal ja alle anderen Aspiranten durch die wachsende Zahl von Auszeichnungen auch bedacht werden konnten: für Wong Kar-wais „In the Mood for Love” Preise für Kamera und Hauptdarsteller Tony Leung; für den chinesischen Beitrag „Teufel auf der Türschwelle” einen Grand Prix; den Jurypreis teilten sich die Iranerin Samira Makhmalbaf und der Schwede Roy Andersson; der Regiepreis ging an den Taiwanesen Edward Yang für „Yi Yi”. Wer hat noch nicht, wer will nochmal?

So ein Preissegen ist im Grunde wie das Schießen mit einem Schrotgewehr – irgendeine Kugel wird schon treffen, vielleicht auch mehrere wie in diesem Fall. Dass Lars von Trier die Goldene Palme gewonnen hat, geht allein schon deshalb voll in Ordnung, weil das von ihm losgetretene Dogma der einzige Trend der letzten Jahre war, der das Kino wie einst die Nouvelle Vague wirklich auf die Höhe seiner Zeit gebracht hat. Und auch wenn „Dancer in the Dark” jenseits von Dogma entstanden ist, so profitiert er doch von den Erfahrungen, die dort mit Video gemacht werden konnten – ansonsten dreht Lars von Trier allen Erwartungen mal wieder gekonnt eine Nase.

Und auch den anderen großen Bewegungen des Weltkinos trug die Jury Rechnung, dem dauerhaften Erfindungsreichtum des persischen Kinos wie dem Aufschwung des chinesischen Kinos, der auch noch von Taiwan und Hongkong begleitet wird. Die kinematographische Weltkarte von Cannes besteht also aus Skandinavien, Iran und Fernost. Erstaunlich darin ist, dass Frankreich darauf nicht vorkommt, obwohl Olivier Assayas, Arnaud Desplechin und Dominik Moll exzellente Filme vorgelegt haben. Aber womöglich ist heute Exzellenz allein nicht mehr genug – wahrscheinlich hatte Lars von Trier mit seinem Dogma ja recht, das sich zuvorderst gegen die Selbstzufriedenheit des Autorenkinos richtete.

Fehlt da nicht was? In der Tat hat das amerikanische Kino hier kaum eine Rolle gespielt. In Berlin wurde gerade noch „Magnolia” mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, in Cannes reichte es nur noch zu einem läppischen Drehbuchpreis für „Nurse Betty”. Der Untergang des amerikanischen Imperiums steht deswegen noch lange nicht an. Womöglich hat Gilles Jacob für sein letztes Festival die interessanteren amerikanischen Filme nur nicht gekriegt – oder vielleicht auch nicht gewollt. So ist es eben bei Festivals: die Ergebnisse können alles bedeuten – oder gar nichts. Im Grunde ist es wie beim Fußball: Es zählt nur, wer am Ende im Rampenlicht steht. Die im Dunkeln sieht man nicht. Im Kino schon gar nicht.

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