17. Mai 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 2000 (3)

Ein Film dauert 90 Minuten

Warum in Cannes keine deutschen Filme im Wettbewerb laufen

Der Minister war da. Er hat mit dem Festival-Chef geplauscht und sich der deutschen Presse gestellt. Seither weiß man mehr. Aber klüger ist man nicht.
Kulturminister Michael Naumann hat seinen Abstecher nach Cannes dazu benutzt, Gilles Jacob zu fragen, warum eigentlich seit sieben Jahren keine deutschen Filme mehr im Wettbewerb laufen. Und der hat geantwortet, er wolle Filme sehen, in denen er etwas über Deutschland lernen könne, keine großformatigen, hochvolumigen Schinken, sondern zeitgenössische Werke von Filmautoren. Dagegen ließe sich einwenden, dass Ersteres in Deutschland nur selten, in Frankreich hingegen am laufenden Band produziert und dann als Eröffnungsfilm gezeigt wird. Man könnte weiterhin sagen, dass „Lola rennt” so ziemlich überall in der Welt für bemerkenswert zeitgenössisch gehalten wurde und Regisseur Tom Tykwer als einer der interessanteren Filmautoren gilt – außer in Frankreich. Jacob hat den Film einst abgelehnt, der dann von Venedig aus seinen Siegeszug um die Welt antrat. Wäre ein guter Anlass gewesen, Tykwers neuen Film „Der Krieger und die Kaiserin” diesmal in Cannes zu zeigen. Fand auch Naumann, und nutzte seine fünf Minuten mit Jacob, mal nachzufragen. Und hier ist die Aufsehen erregende Antwort, so wie sie der Minister kolportierte: Der Cannes-Chef wünsche sich für seinen Wettbewerb – aufgepasst! – Filme, die 90 Minuten dauern und nicht zweieinhalb Stunden wie im Falle Tykwers. Potzblitz. Sepp Herberger hätte an dieser Antwort seine Freude gehabt, und auch Filmjournalisten wären darüber gewiss nicht unglücklich, aber ein Blick ins Wettbewerbsprogramm zeigt, dass der Festival-Chef offenbar zu scherzen beliebt. Der Schnitt der 26 Wettbewerbsfilme liegt bei 122 Minuten, die Filme aus Asien dauern bis zu 217 Minuten, die aus Frankreich 180 und 157, und selbst der von Liv Ullmann 155 Minuten – und es lässt sich wirklich nicht behaupten, dass die Zeit dabei wie im Fluge verginge. Kann gut sein, dass mancherorts so etwas Diplomatie heißt, auf gut Deutsch nennt man das Verarschung. Vielleicht sollte Naumann mal überlegen, ob es wirklich eine gute Taktik ist, nicht aus der Haut zu fahren – wie es seine Kollegen aus Italien und Spanien gemacht haben, die dieses Jahr auch keinen Film im Wettbewerb haben.

Fürs Erste muss Naumann ohnehin vor der eigenen Tür kehren. Die Berlinale braucht einen neuen Chef. Moritz de Hadeln wurde gekündigt, der das skandalös fand – zu Unrecht, wie Naumann meint. De Hadeln sei zwei Wochen vorher informiert worden, dass sein Vertrag nicht verlängert werde – über die Gründe wollte Naumann nichts sagen, um de Hadelns Arbeit nicht zu beschädigen. Das sagt ja auch einiges. Und tatsächlich sei er mit Dieter Kosslick im Gespräch – aber nicht nur mit ihm. Namen werden nicht genannt, damit die Presse die Anwärter nicht gleich durch den Dreck ziehen könne. Das nennt man Transparenz.
So viel in eigener, deutscher Sache – wichtiger sind womöglich die Filme, die es hierher geschafft haben. Und unter diesen vielleicht jene, die am Rande laufen. Das Glück verbirgt sich ja oft dort, wo kaum einer hinsieht. So lief vor spärlicher Kulisse ein Dokumentarfilm von Agnès Varda, „Les glaneurs et la glaneuse”, ein 76-minütiges Wunder aus Freiheit und Genauigkeit, Neugier und Geduld, Verspieltheit und Zärtlichkeit. Die Regisseurin von „Vogelfrei” und „Cléo von 5 bis 7” beginnt mit François Millets berühmtem Bild von den Kartoffelklauberinnen und kommt von dort vom Hundertsten ins Tausendste – oder eigentlich eher umgekehrt: Sie kommt ihrem Thema immer näher, indem sie es immer weiter fasst und zeichnet am Ende ein Bild unserer (Wegwerf-)Gesellschaft, das im gleichen Maße poetisch wie politisch ist.

Sie beginnt mit der Erkenntnis, dass Erntemaschinen die mühselige Kartoffelernte von Hand überflüssig gemacht haben. Aber dann stellt sie fest, dass es das durchaus noch gibt, wenngleich in anderem Zusammenhang. Abseits der Konsumgesellschaft gibt es immer noch Leute, die sich bücken und die Reste auflesen. Sie wühlen in den Abfällen der Wochenmärkte, durchsuchen die Mülltonnen hinter den Supermärkten, pflücken, was bei der Ernte übersehen wurde. Varda findet ihre Helden auf Obstplantagen, auf Müllkippen und Schrottplätzen. Godard hat mal behauptet, er habe seinen Film auf dem Schrottplatz gefunden – Varda nimmt ihn beim Wort. Mit ihrer kleinen Kamera zieht sie los und liest ihren Film sozusagen von der Straße auf. Das ist keine Sozialreportage, sondern eine Reflexion über eine Gesellschaft, die von dem lebt, was durch den Rost fällt. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr raus, was für Geschichten sich auf der Unterseite des Kartoffelklauber-Bildes finden – man muss sich nur bücken.

Vor dieser Lebendigkeit, dieser Zugewandtheit zum Leben verblasst erstmal alles, was der Wettbewerb so zu bieten hat. Und das Einzige, was damit mithalten kann, ist ein Fahndungsplakat neben dem Fahrkartenschalter am Bahnhof. „Enfants perdus” steht da, und darunter sind Fotos von verschwundenen Kindern abgebildet. Kleinkinder sind darunter, Teenager, und sie alle sind in den letzten zehn Jahren verloren gegangen. Da sind sie alle und starren einen an. Und neben jedem Bild ist ein anderes zu sehen, auf dem mit dem Computer simuliert wurde, wie die Kinder heute aussehen könnten. Sie wurden mittels digitaler Bildbearbeitung künstlich gealtert: Sie sind nicht mehr drei, sondern zehn, nicht mehr zwölf, sondern 16 Jahre alt. Und hinter jedem ausdruckslosen Lächeln verbirgt sich eine Geschichte, die ein Schlag ins Gesicht des Kinos ist. Etwas Traurigeres gibt es auf dem ganzen Festival nicht zu sehen.

Reaktionen:

Leserbrief zu „Es fehlen nicht nur 27 Küsse” und „Ein Film dauert 90 Minuten” / SZ vom 15. und vom 17. Mai

Michael Althen hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Der deutsche Film ist nicht besser, aber auch nicht schlechter als viele andere Filme, die auf dem Festival in Cannes gezeigt werden. „Jenseits der Stille”, „Aimée & Jaguar”, „Lola rennt”, „Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein”, „Gloomy Sunday”, „Die Unberührbare”, „Nichts als die Wahrheit” oder „Comedian Harmonists” – um nur einige Beispiele zu nennen – hätten es allemal verdient gehabt, sich auf dem vielleicht (noch) wichtigsten Filmfestival der Welt der Konkurrenz und der Diskussion zu stellen.
Die Ausflüchte des Festivalchefs Gilles Jacob entlarven den wahren Grund, warum es kein deutscher Film schafft, in den Wettbewerb an der Croisette zu kommen: Jacob mag die Deutschen nicht und folglich den deutschen Film auch nicht. Und leider hat er Berater/innen – auch deutsche – die ihn in der Ansicht bestärken, der deutsche Film sei seines edlen Festivals unwürdig. Ein Witz, wenn man manchen Film aus anderen Ländern sieht, der in Cannes läuft!
DR. KLAUS SCHAEFER, Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2000

Leserbrief zu „Es fehlen nicht nur 27 Küsse” und „Ein Film dauert 90 Minuten” / SZ vom 15. und vom 17. Mai

Michael Althen spricht in seinem Artikel über die Filmfestspiele in Cannes einen Begriff an, dessen Auswirkungen auf das Kino der Zukunft genauso groß sein könnte wie die begriffliche Verwirrung, die sich hinter diesem Wort verbirgt: digitales Kino oder Cinéma Numérique. Nun gab es in Cannes eine etwas verunglückte Podiumsdiskussion über das Cinéma Numérique, bei der sieben Vertreter über digitales Kino diskutierten. Da reichte die Spannbreite der Meinungen von der Filmemacherin, die in Jamaica mit Consumer-Ausrüstung einen Low-Budget-Film produzierte und diesen ins Kino bringen will, bis hin zum Filmemacher, der eine aufwändige 35-Millimeter-Filmproduktion mit einem erheblichen Etat digital nachbearbeiten möchte. Beides läuft leider unter dem Begriff „digitales Kino”.

Daher müssen neue Begriffe geschaffen werden, die diese Definitions-Verwirrung ordnen. Einen feststehenden Begriff gibt es bereits: Electronic Cinema, was bedeutet, dass nicht Film projiziert wird, sondern Videosignale, die heute noch geringere Auflösungen als Print-Filme besitzen, durch einen elektronischen Projektor.

Aber zurück zur babylonischen Verwirrung um den Begriff digitales Kino: Was digitales Kino durchaus leisten kann, ist eine Form der Nachbearbeitung, die dem Filmemacher bislang noch nicht ermöglicht wurde. Es können Farbmanipulationen oder -korrekturen vorgenommen werden, die den bisherigen Rahmen konventioneller Kopierwerkstechniken bei Weitem übertrifft. Bildausschnittkorrekturen sind einfacher zu verwirklichen, der Schnitt muss nicht mehr zwangsläufig am Film direkt erfolgen, sondern kann digital in Form von Computer-Daten geschehen, ohne die Auflösung und Brillanz, die den Film auszeichnet, zu verlieren. Und dies sind nur einige wenige Beispiele, ohne die Möglichkeiten der so genannten Special Effects zu erwähnen. Special Effects sind nicht nur Instrumente für Action-Film-Macher, sondern können auch das Retuschieren von Stromleitungen in einem historischen Film ermöglichen – das ist digital in der Nachbearbeitung leicht machbar.

Was bedeutet das alles für den Filmemacher? Eine schnellere und effektivere Nachbearbeitung, mit der er einen erheblich größeren Einfluss nehmen kann als bisher. Wenn Michael Althen den neuen Film der Coen-Brüder erwähnt, weiß er sicherlich nicht, dass „Oh Brother, Where Are Thou?” bei Cinesite in Hollywood auf einem Filmabtaster gescannt, digital nachbearbeitet und wieder auf Film ausbelichtet wurde. Die Farbstimmungen, die Joel Coen darin erreicht, wären anders gar nicht möglich gewesen. Das muss man auch gar nicht wissen, denn das, was hinterher dabei herauskommt, ist großes Kino. Und zwar genau so, wie wir es gewohnt sind: mit projiziertem Film.
MICHAEL SCHNEIDER, Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2000

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