15. Mai 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 2000 (2)

Es fehlen nicht nur 27 Küsse

53. Filmfestspiele in Cannes: Das Programm ist homogenisiert und die Atmosphäre so nebulös wie selten zuvor

Die Zukunft des Kinos wurde in Cannes sinnigerweise schon vor Festivalbeginn verhandelt – auf so einem Symposium spricht es sich sicher leichter, wenn man noch nicht Tag für Tag der Gegenwart des Kinos ausgesetzt ist. Und nach dem Festival hätte man womöglich nur noch Lust, über die Vergangenheit des Kinos zu sprechen. Von Zukunft kann jedenfalls fürs Erste keine Rede sein.

Aber wie immer, wenn das so ist, wird sie umso heftiger beschworen. Die Tageszeitung Libération widmet der Zukunft des Kinos im Zuge der Festivalberichterstattung täglich ein paar Seiten, auf denen die Digitalisierung des Kinos – oder wie der Franzose sagt: cinéma numérique – verhandelt wird. Es handle sich dabei, wird behauptet, um eine Revolution wie einst beim Übergang vom Stumm- zum Ton-, vom Schwarzweiß- zum Farbfilm. Mit den Computertricks hat es begonnen, momentan befasst man sich mit digitalen Aufnahme- und Projektionstechniken, und es wird womöglich damit enden, dass die digitalen Bilder irgendwann direkt ins zentrale Nervensystem eingespeist werden. Vielleicht wird man das dann immer noch Kino nennen – wahrscheinlich wird es mit dem, was wir heute darunter verstehen, nicht mehr viel zu tun haben. Kann aber sein, dass das dann auch nur alter Wein in neuen Schläuchen sein wird. Im Wettbewerb von Cannes ist jedenfalls eine Revolution weit und breit nicht in Sicht – so gesehen wäre sie womöglich fällig.

Dem digitalen Fortschritt begegnet man fürs Erste auf den Plakatwänden der Croisette, wo eine Kosmetikfirma mit den schönsten Frauen der Welt fürs Festival wirbt – und natürlich für den eigenen Duft, von dem diese Damen behaupten, das seien sie sich wert. Da sieht man dann überlebensgroß Laetitia Casta, Virginie Ledoyen, Claudia Schiffer, Gong Li und Andie MacDowell, die durch die Wunder der digitalen Bildbearbeitung auf eine Weise von allen menschlichen Unregelmäßigkeiten gereinigt wurden, dass von ihrer Ausstrahlung buchstäblich nichts mehr übrig ist. Die Schönheiten sind so etwas von porentief rein und begradigt, dass man sich fragt, warum die Firma für diese sterilisierten Images überhaupt Schauspielerinnen bezahlt – das Verhältnis ist ungefähr das von H-Milch zu Vollmilch, und diese homogenisierten Gesichter ließen sich vermutlich auch zur Gänze am Computer generieren. Der Spruch „Weil ich es mir wert bin” ist in dem Zusammenhang die reinste Bankrotterklärung.

Das Kino hält sich – weil es sich das wert ist – fürs Erste an altbewährte Mittel: erzählt mit den Coen-Brüdern in „Oh Brother, Where Art Thou” die Odyssee als Geschichte dreier Kettensträflinge, die durch den Depressionssüden fliehen. Smart gedacht, lustig gemacht – und wie üblich frei von Emotionen: George Clooney soll Odysseus sein und sieht aus wie Clark Gable. Letzteres ist – wenn man das überhaupt so sagen kann – wichtiger. Richtig wichtig ist es nämlich nicht. Man amüsiert sich – und geht heim, als sei nichts gewesen. War ja auch nichts.

Liv Ullmann verfilmt in „Untreu” ein Drehbuch ihres Regisseurs Ingmar Bergman, als wolle sie einen Werbefilm für Ikea-Möbel drehen. Was in der Vorlage steckte, lässt sich nur noch erahnen: Ein Regisseur erfindet sich eine Geschichte, die ein Eigenleben entwickelt – aber die Bilder sind so leblos, dass die Konfrontation nie verfängt. Außerdem: „Teufel auf der Türschwelle” – ein Chinese im Wettbewerb, sehr chinesisch und symbolverhangen. „27 fehlende Küsse” – eine Georgierin in der Quinzaine, die unter deutscher Flagge läuft, georgisch lebenslustig, symbolisch überfrachtet. Ein familiärer Reigen unter sommerlicher Sonne – Momente des Glücks in eine jener Strukturen eingebunden, in denen alles und nichts möglich ist. Die Welt dreht sich, der Zufall regiert, und wenn man Lust hat, nennt man ihn Schicksal. Das Kino scheint außer Stande, Geschichten von A bis Z zu erzählen, ohne sich dabei dauernd aus der Verantwortung zu stehlen. Leute beim Wort zu nehmen, ihre Gefühle ernst zu nehmen, den Zuschauer bei der Hand zu nehmen – das ist immer seltener möglich. Immer fadenscheiniger werden die Geschichten, immer sichtbarer das Konzept dahinter: Mal heißt es Poesie, mal Action, mal irgendwie.

Da unterhält man sich noch am besten, wenn der Brite Stephen Hopkins Claude Millers „Verhör” neu verfilmt: Morgan Freeman als Lino Ventura, Gene Hackman als Michel Serrault und Monika Belucci als Romy Schneider. Ein Anwalt soll sich an zwei Mädchen vergangen haben, in Wahrheit ist er an der Verachtung seiner Frau zerbrochen. Die Geschichte funktioniert immer noch. Dabei wirkt sie fast schon altmodisch in der Art, wie sich hier jemand bemüht, etwas von vorn nach hinten zu erzählen. Das Original von „Under Suspicion” ist ja schließlich auch schon 20 Jahre alt.

So war das Aufregendste in den ersten Tagen eine meteorologische Erscheinung, wie sie in diesen Breiten nur alle 25 Jahre mal vorkommt – eine Nebelwalze, wie man sie sonst nur aus John Carpenters „The Fog – Nebel des Grauens” kennt. Eine Nebelwand rollt auf die Küste zu und verschluckt einfach alles, das Festivalpalais, die Hotels, die Besucher, die ganzen architektonischen Sünden und die kinematografischen ebenfalls, alles. Und wenn sich der Nebel wieder lichtet, ist alles verschwunden. Im digitalen Zeitalter wäre das möglich, denn da ist ohnehin alles nur noch ein Datennebel. Fürs Erste ist das Kino aber noch eine analoge Erscheinung – und so geht der Festivalspuk weiter. Vor drei Wochen, so heißt es in der Lokalpresse, habe es dieses rare Phänomen schon einmal gegeben. Man macht den zunehmenden Smog für diese Häufung verantwortlich. Könnte aber auch sein, dass die Strahlung von zigtausend Handys die Küste und die Sinne vernebelt – in Cannes ist alles möglich.

Reaktionen:

Leserbrief zu „Es fehlen nicht nur 27 Küsse” und „Ein Film dauert 90 Minuten” / SZ vom 15. und vom 17. Mai

Michael Althen hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Der deutsche Film ist nicht besser, aber auch nicht schlechter als viele andere Filme, die auf dem Festival in Cannes gezeigt werden. „Jenseits der Stille”, „Aimée & Jaguar”, „Lola rennt”, „Sunshine – Ein Hauch von Sonnenschein”, „Gloomy Sunday”, „Die Unberührbare”, „Nichts als die Wahrheit” oder „Comedian Harmonists” – um nur einige Beispiele zu nennen – hätten es allemal verdient gehabt, sich auf dem vielleicht (noch) wichtigsten Filmfestival der Welt der Konkurrenz und der Diskussion zu stellen.
Die Ausflüchte des Festivalchefs Gilles Jacob entlarven den wahren Grund, warum es kein deutscher Film schafft, in den Wettbewerb an der Croisette zu kommen: Jacob mag die Deutschen nicht und folglich den deutschen Film auch nicht. Und leider hat er Berater/innen – auch deutsche – die ihn in der Ansicht bestärken, der deutsche Film sei seines edlen Festivals unwürdig. Ein Witz, wenn man manchen Film aus anderen Ländern sieht, der in Cannes läuft!
DR. KLAUS SCHAEFER, Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2000


Leserbrief zu „Es fehlen nicht nur 27 Küsse” und „Ein Film dauert 90 Minuten” / SZ vom 15. und vom 17. Mai

Michael Althen spricht in seinem Artikel über die Filmfestspiele in Cannes einen Begriff an, dessen Auswirkungen auf das Kino der Zukunft genauso groß sein könnte wie die begriffliche Verwirrung, die sich hinter diesem Wort verbirgt: digitales Kino oder Cinéma Numérique. Nun gab es in Cannes eine etwas verunglückte Podiumsdiskussion über das Cinéma Numérique, bei der sieben Vertreter über digitales Kino diskutierten. Da reichte die Spannbreite der Meinungen von der Filmemacherin, die in Jamaica mit Consumer-Ausrüstung einen Low-Budget-Film produzierte und diesen ins Kino bringen will, bis hin zum Filmemacher, der eine aufwändige 35-Millimeter-Filmproduktion mit einem erheblichen Etat digital nachbearbeiten möchte. Beides läuft leider unter dem Begriff „digitales Kino”.

Daher müssen neue Begriffe geschaffen werden, die diese Definitions-Verwirrung ordnen. Einen feststehenden Begriff gibt es bereits: Electronic Cinema, was bedeutet, dass nicht Film projiziert wird, sondern Videosignale, die heute noch geringere Auflösungen als Print-Filme besitzen, durch einen elektronischen Projektor.

Aber zurück zur babylonischen Verwirrung um den Begriff digitales Kino: Was digitales Kino durchaus leisten kann, ist eine Form der Nachbearbeitung, die dem Filmemacher bislang noch nicht ermöglicht wurde. Es können Farbmanipulationen oder -korrekturen vorgenommen werden, die den bisherigen Rahmen konventioneller Kopierwerkstechniken bei Weitem übertrifft. Bildausschnittkorrekturen sind einfacher zu verwirklichen, der Schnitt muss nicht mehr zwangsläufig am Film direkt erfolgen, sondern kann digital in Form von Computer-Daten geschehen, ohne die Auflösung und Brillanz, die den Film auszeichnet, zu verlieren. Und dies sind nur einige wenige Beispiele, ohne die Möglichkeiten der so genannten Special Effects zu erwähnen. Special Effects sind nicht nur Instrumente für Action-Film-Macher, sondern können auch das Retuschieren von Stromleitungen in einem historischen Film ermöglichen – das ist digital in der Nachbearbeitung leicht machbar.

Was bedeutet das alles für den Filmemacher? Eine schnellere und effektivere Nachbearbeitung, mit der er einen erheblich größeren Einfluss nehmen kann als bisher. Wenn Michael Althen den neuen Film der Coen-Brüder erwähnt, weiß er sicherlich nicht, dass „Oh Brother, Where Are Thou?” bei Cinesite in Hollywood auf einem Filmabtaster gescannt, digital nachbearbeitet und wieder auf Film ausbelichtet wurde. Die Farbstimmungen, die Joel Coen darin erreicht, wären anders gar nicht möglich gewesen. Das muss man auch gar nicht wissen, denn das, was hinterher dabei herauskommt, ist großes Kino. Und zwar genau so, wie wir es gewohnt sind: mit projiziertem Film.
MICHAEL SCHNEIDER, Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2000

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