21. März 1997 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Oscars | Academy Awards 1997 (1)

Der amerikanische Patient

Warum Hollywood bei den Oscars eine Schlappe erleiden wird

So ganz bei Trost war der Oscar noch nie. Die illustre Geschichte des renommiertesten Filmpreises ist so voller Irrungen und Wirrungen, daß sich niemand wundern muß, wenn es auch bei der 69. Verleihung am nächsten Montag wieder zu Aussetzern kommt. Einiges Kopfschütteln gab es schon im Vorfeld, als Kenneth Branagh allen Ernstes für seine Drehbuchbearbeitung von Hamlet nominiert worden ist. Dabei hatte sich der Brite damit gebrüstet, daß er bei seiner vierstündigen Adaption so werkgetreu wie möglich vorgegangen sei. Wort für Wort stammt also von Shakespeare, und wenn die Verfilmung Nominierungen verdient haben sollte, dann für alles andere – aber nicht fürs Drehbuch. Dabei sind es die einzelnen Gilden, die Nominierungen vornehmen, und nicht etwa die gesamte, von Schauspielern dominierte Mitgliederschaft der Academy. Es waren also die Autoren selbst, die Branagh dafür belohnten, daß er die Finger von Shakespeares Sätzen gelassen hat. Darüber lacht ganz Hollywood.

Gut so, denn ansonsten ist Hollywood das Lachen vergangen. So schlecht wie diesmal haben die großen Studios bei den Nominierungen für den besten Film noch nie abgeschnitten. Vier von den fünf zur Auswahl stehenden Filmen wurden nicht von ihnen produziert, sondern von sogenannten Independents. Und in den anderen Hauptkategorien sieht es nicht anders aus. Die unabhängigen Filme stellen bei den Schauspielern drei, bei den Regisseuren vier und bei den Schauspielerinnen fünf der Oscar-Anwärter. Die Zeitschrift Entertainment Weekly fragte daraufhin in einer Titelgeschichte hämisch: ‚Has Hollywood lost it?‘

Tatsächlich hat man mehr denn je den Eindruck, daß Hollywood von allen guten Geistern verlassen ist. Daß die Filme immer teurer und einfältiger werden, ist kein neuer Trend. Aber mittlerweile sind sie so kostspielig, daß den Studios Geld, Zeit und Potential fehlt, jene Filme zu drehen, mit denen sie früher nicht nur die Kinos, sondern vor allem die Herzen der Welt erobert haben – Geschichten, bei denen die Effekte nicht nur eine Sache des Geldes sind. Und man kann den Oscars vorwerfen, was man will, dafür hatten sie schon immer eine feine Nase.

Ein Blick auf den Favoriten genügt: Der englische Patient sollte ursprünglich bei der Fox produziert werden, die aber wenige Tage vor Drehbeginn kalte Füße bekam. Plötzlich waren ihnen die Stars nicht groß genug und das Budget zu hoch. Produzent Saul Zaentz, der mit Einer flog übers Kuckucksnest und Amadeus schon zwei Oscars gewonnen hat, ging zu Miramax, wo der Film für 31 Millionen Dollar gemacht wurde. Der Film hat jetzt schon das Doppelte eingespielt – und wenn er den Oscar kriegt, wird richtig Geld verdient. Daß allerdings auch die Independents nicht immer ein untrügliches Gespür für besondere Filme besitzen, sieht man daran, daß sich Miramax Shine durch die Lappen gehen ließ – die Rechte hat dann Fine Line erworben.

Die Studios verpflichten für ähnliche Summen lieber zwei bewährte Stars und geben darüber hinaus möglichst so viel Geld aus, daß man den Filmen auch jeden Dollar ansieht, und stecken hinterher nochmal dieselbe Summe in die Werbung. Nur so können sie sicher sein, daß die Vermarktung auch über Juniortüten, Computerspiele und sonstigen Krimskrams läuft. Das garantiert weltweit so viel Aufmerksamkeit, daß sogar weniger erfolgreiche Filme irgendwo auf der Welt ihr Geld wieder einspielen. Wenn es jedoch sehr gut läuft, dann verdienen sich die Studios eine goldene Nase. An Filmen mit Oscar-Ambitionen haben sie im Grunde kaum noch Interesse: zu viel Aufwand, zu wenig Ertrag. Böse Zungen behaupten, sie würden solche Filme überhaupt nur noch machen, um Karten für die Oscar-Verleihung zu bekommen.

Die Studios haben es sich noch leichter gemacht. Was wir nicht selbst machen können, dachten sie, das können wir immer noch kaufen. Miramax gehört also Disney, Fine Line gehört New Line, die wiederum Time Warner angehören. Und an October Films, die Secrets & Lies im Rennen haben, ist Universal interessiert. So geht es natürlich auch. Aber das ändert nichts daran, daß die Studios das Gespür für große Filme verloren und statt dessen das Geldausgeben zur Kunst erhoben haben.

So viel wurde in den letzten Wochen über Hollywoods Impotenz geredet, daß die Stimmung umschlagen könnte und der einzige Studio-Film Jerry Maguire den English Patient noch abfangen könnte. Und womöglich kann Tom Cruise sogar den bisherigen Favoriten Geoffrey Rush aus Shine noch schlagen. Aber wahrscheinlich ist es nicht: Denn den Preis der Schauspieler-Gilde, die auch den Großteil der gut 5 000 für den Oscar Stimmberechtigten stellt, hat der Australier Rush gewonnen.

Gleiches gilt für den Regisseur Anthony Minghella, der auch schon von der eigenen Gilde für den English Patient geehrt worden ist. Und es wäre schon eine ziemliche Überraschung, wenn er nicht auch für seine Drehbuchadaption dieses in aller Augen unverfilmbaren Romans einen Oscar bekäme. Dazu werden wohl noch Auszeichnungen für Kamera, Schnitt und Ton kommen. Juliette Binoche wird es bei den Nebendarstellerinnen allerdings schwer haben, denn sie tritt gegen Lauren Bacall an, die noch nie nominiert war – und solche Gelegenheiten für eine standing ovation läßt sich die Academy nur ungern entgehen.

Der englische Patient ist vielleicht kein Film wie Schindlers Liste oder Forrest Gump, an deren Sieg es nie einen Zweifel gab. Aber ich würde darauf wetten, daß dieser Patient in der Nacht zum Dienstag wohlauf sein wird – und sich der amerikanische Patient Hollywood davon nicht so bald erholen wird.

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