31. März 1993 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Oscars | Academy Awards 1993

Leitartikel

Barometer Hollywood

Als der Westernheld auf die Bühne kam, erhob sich das Publikum und feierte ihn überschwenglich. Clint Eastwood, der lange Zeit vor allem als Schauspieler bekannt war, gewann am Montagabend in Los Angeles den Oscar als bester Regisseur, und sein Western ERBARMUNGSLOS wurde als bester Film des Jahres ausgezeichnet. Knapp 5000 Filmschaffende haben so entschieden, und eigentlich wäre das nicht weiter der Rede wert, wenn dieser Sieg nicht auch etwas von dem widerspiegeln würde, was sich in Amerika im letzten Jahrzehnt getan hat.

Hollywood war von jeher ein guter Gradmesser für die Befindlichkeit der Amerikaner, für ihre Stimmungen und Phantasien. Das liegt zum einen daran, daß die Filmemacher wegen der hohen Herstellungskosten dazu gezwungen sind, den Geschmack möglichst vieler Leute zu treffen. Und zum anderen war das Kino in diesem Schmelztiegel von Menschen unterschiedlichster Herkunft von Anfang an gefordert, sich ihnen auch verständlich zu machen: dem polnischen Polizisten in Chicago wie dem italienischen Friseur in New York, den mexikanischen wie den deutschen Einwanderern. So entwickelte Hollywood seine universelle Sprache, die immer etwas mehr aufs große Ganze ausgerichtet war als anderswo. Was also sagen Clint Eastwoods Oscars über das große Ganze aus?

Der Westen leuchtet nicht mehr bei Eastwood. Was immer die Losung ‚Go West!‘ einst beinhaltet haben mag, sie ist nichts mehr wert in diesem Film. Der Wilde Westen, aus dessen Verklärung sich der Glauben der Amerikaner an sich selbst immer wieder speiste, wird als wüstes Land gezeigt, in dem Gewalt herrscht und Illusionen keinen Platz mehr haben. Es gehört folglich nicht viel dazu, in der düsteren Welt dieses Films das heutige Amerika wiederzufinden. Die Desillusionierung, die sich am Ende der Ära Reagan breitmachte, spiegelt sich da und die Weigerung, die sozialen Mißstände länger zu verdrängen.

Wie genau solche Geschichten aus der amerikanischen Geschichte die Gegenwart abbilden, sieht man an einem berühmten Spruch aus einem anderen legendären Western. Dort sagt ein Journalist, nachdem er die Wahrheit über einen Westernhelden erfahren hat: ‚Wenn hinter der Legende die Wahrheit sichtbar wird, bleiben wir bei der Legende.‘ Das war 1961, und damals war John F . Kennedy Präsident. Eastwood zeigt hingegen, daß dem Land mit Legenden nicht mehr gedient ist. Dabei ist der Erfolg seines Films nur der deutlichste Ausdruck dafür, daß auch das Kino den politischen Wandel in Amerika mitvollzogen hat.
Die Zeit, in der das Kino verlorene Schlachten in Siege verwandelte und die Star Wars eine Fortführung des Kalten Kriegs mit anderen Mitteln darstellten, sind vorbei. Hollywood hat den Feind neuerdings im eigenen Land ausgemacht, bevorzugt in Washington. Ein Blick ins Kinoprogramm genügt. In Eine Frage der Ehre wird ein selbstgerechter General demontiert und in Ein ehrenwerter Gentleman ein korrupter Politiker bekehrt. Das heißt jedoch noch lange nicht, daß Hollywood plötzlich sein politisches Gewissen entdeckt hätte. Es bedeutet nur, daß man dort mitgekriegt hat, daß bei den Zuschauern Schönrednerei im Moment nicht besonders gut ankommt.

Wer daraus schließt, daß der Stimmungswandel im amerikanischen Kino nicht mehr ist als eine Laune des Publikums, unterschätzt den Einfluß des Kinos auf die Verhältnisse. Am besten illustriert das vielleicht der Satz eines Regisseurs über die Zeit des New Deal unter Roosevelt: ‚Es war nicht Amerika, an das wir in all den Jahren geglaubt haben, sondern Frank Capra.‘ Das Bild, das der Regisseur Capra in seinen gnadenlos optimistischen Filmen entwarf, war naturgemäß anschaulicher als alle politischen Programme und Parolen, mit denen Roosevelt in der Depressionsära der Dreißiger die Wirtschaft in Schwung bringen wollte – und womöglich tatsächlich einflußreicher als jene zugeben werden, die das Primat der Politik über alles stellen.

Das liegt daran, daß Amerika ein Land mit kurzer Geschichte ist, wo die Mythen nicht wie in Europa in grauer Vorzeit wurzeln. So läßt es sich erklären, daß es Amerika immer nötiger hatte als andere Länder, sich fortwährend neu zu erfinden. Man muß sich nur vergegenwärtigen, daß zur Jahrhundertwende, als das Kino seinen Siegeszug begann, einige der mythischen Figuren des amerikanischen Westens noch lebten. Da ist es kein Wunder, daß das Kino in Amerika eine sehr viel aktivere Rolle in der Erfindung des Selbstverständnisses der Nation spielt als bei uns.

Man muß Hollywood deshalb nicht unbedingt Einfluß auf das Klima in Washington zuschreiben. Dagegen spricht schon die im Durchschnitt zweijährige Produktionszeit der Filme. Aber es ist allemal ein besserer Barometer für Klimaumschwünge im Lande als die üblichen Meinungsumfragen. Denn das Kino, dieser dunkle Ort der geheimen Wünsche und Sehnsüchte, erfaßt das Unter- und Unbewußte, das, was die Menschen bewegt, ehe es sich überhaupt in Meinungen verfestigt. Demnach belegen die Oscars für Eastwood, daß Amerika im Moment ein Land mit wenig Illusionen und noch weniger Visionen ist. Es ist vor allem damit beschäftigt, die Schattenseiten seiner einst strahlenden Helden zu erforschen. Hinter der Legende wird die Wahrheit sichtbar – und es zeigt die Wahrheit. Das ist schon ein Fortschritt.

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