01. April 1992 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Oscars | Academy Awards 1992 (1)

Von Wölfen und Lämmern

Die Oscar-Verleihung in Hollywood

Völlig schwerelos flog der Oscar durch den Raum, stand kurz Kopf und drehte eine kurze Pirouette, ehe er eingefangen wurde. Die Insassen des Space Shuttle mit dem beziehungsreichen Namen Atlantis grüßten via Satellit George Lucas, der von seinem Freund Steven Spielberg den Thalberg-Award für seine Verdienste überreicht bekam. Auch sonst schien der Oscar an diesem Abend ziemlich losgelöst. Denn aus der Konkurrenz ohne klare Favoriten ging ein so überzeugend eindeutiger Sieger hervor, wie es das in der Geschichte dieses Filmpreises erst zweimal gab.

Alle fünf Hauptpreise zu gewinnen, das gelang vor Das Schweigen der Lämmer nur Es geschah in einer Nacht im Jahr 1934 und Einer flog übers Kuckucksnest 1975. Nachdem gut gemachte Thriller nicht unbedingt zum Lieblingsgenre der Academy zählen, kann man erahnen, wie groß die Bedenken gegen die anderen Filme gewesen sein müssen.

Daß der Zeichentrickfilm Beauty and the Beast sich nicht würde durchsetzen können, lag nahe, aber mit den deutlichen Niederlagen von Bugsy, JFK und Herr der Gezeiten war so nicht zu rechnen. Den akademischen Ansprüchen an Attraktivität, Seriosität und Profitabilität konnte offenbar nur Jonathan Demmes Film genügen. Wodurch die Academy, sonst nicht gerade als Vorreiterin bekannt, ganz unerwartet schnell auf eine veränderte Atmosphäre und Tonart des Filmemachens reagiert hat.

Ob sie dabei nun aus Instinkt oder Reflex gehandelt hat, läßt sich nicht feststellen. Sicher ist jedoch, daß eine allgemeine Unzufriedenheit mit bewährten – und kostspieligen – Talenten diese Hinwendung zum Neuen nach sich zog. Man könnte einwenden, daß Das Schweigen der Lämmer auch nicht besser ist als Kap der Angst, dessen Regisseur Martin Scorseese wie üblich übergangen wurde. Andererseits riskiert es Demme, seinen Massenmörder am Ende in die Freiheit zu entlassen und das auch noch als Happy- End zu verkaufen. Das ist nicht gerade das Glück, von dem Oscar-Filme üblicherweise erzählen. (Anthony Hopkins ist dabei übrigens nach Daniel Day Lewis und Jeremy Irons der dritte Brite in Folge, dem sich die Amerikaner zu Füßen werfen.

Existenzkampf Hollywoods

Das Schweigen der Lämmer hat den Horror endgültig gesellschaftsfähig gemacht. Das spricht für und gegen den Film zugleich. Mit dem Sieg der Lämmer setzt Hollywood seinem eigenen Kannibalismus ein groteskes Denkmal. Der klare Gewinner seit Jahren kommt wie der Vorjahressieger Der mit dem Wolf tanzt von einem Studio, das bankrott ist, von Orion. Wölfe und Lämmer: ein schönes Sinnbild für den Existenzkampf Hollywoods, in dem es mehr denn je ums Fressen und Gefressen-Werden geht.
MICHAEL ALTHEN

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