03. Juni 2000 | Süddeutsche Zeitung | Kommentar, Leben | Geiselnehmer von Kamera-Attrappe getroffen

Vorsicht Kamera!

Warum sich Geiselnehmer jetzt sehr in Acht nehmen müssen

Jedes Mittel ist recht, um Menschen aus der Hand eines Geiselnehmers zu befreien. Und wenn die zwei Dutzend Kinder im luxemburgischen Wasserbillig nur mit einer als Kamera getarnten Waffe freigeschossen werden konnten, dann ist eben auch dieses Mittel recht. Andererseits lässt sich nicht verhehlen, dass die als Kamerateam getarnten Scharfschützen gemischte Gefühle hervorrufen. Wenn man zu ergründen versucht, warum das so ist, hilft es, sich vor Augen zu halten, dass die Reaktion auf diese Nachricht eine andere wäre, wenn der Mann vom nächst gelegenen Dach aus erschossen worden wäre. Warum also berührt es so, dass er von einer Kamera-Attrappe getroffen wurde?

Als sei diese Täuschung ein Eingriff ins ohnehin labile Gleichgewicht zwischen Presse und Öffentlichkeit. Als würde die Tatsache, dass die Schützen sich das blinde Vertrauen des Geiselnehmers in die Objektivität der Kamera zunutze gemacht haben, den Glauben in die Unparteilichkeit der Presse erschüttern. Und wenn es so wäre, so wird dadurch vielleicht nur ein Missverständnis erhellt, welches das Bildermachen immer begleitet hat.

Ehe im vorletzten Jahrhundert die bewegten Bilder erfunden wurden, hatte sich bereits Etienne-Jules Marey das Prinzip des Trommelrevolvers zunutze gemacht und mit seiner fotografischen Flinte so genannte Reihenbilder erzeugt, die Bewegungen in einzelne Bilder zerlegten. Wenn er etwas aufnehmen wollte, musste er auf sein Gegenüber anlegen. Im Englischen heißt es sinnigerweise gleich „to shoot pictures” – bei uns gibt es den „Schnappschuss” und das „Abschießen” der Paparazzi. Marlene Dietrich stöhnte, sie sei zu Tode fotografiert worden und brachte damit auf den Punkt, was sich über das Bildermachen ganz allgemein sagen lässt. Die Kamera tut ihrem Gegenstand immer mehr oder weniger Gewalt an, indem sie immer mehr zutage fördert, als der andere zeigen will.

Womöglich hilft das in diesem speziellen Fall nicht weiter, aber es lässt sich nicht leugnen, dass der aggressive Charakter der Kamera offensichtlicher wird: Sei es durch die Raketenaugen bei den Angriffen auf Bagdad, sei es durch Big Brother, wo die Kamera-Augen unsichtbare Gefängniswände bilden. Wenn also jetzt die Kamera tatsächlich zur Waffe geworden ist, dann ist das nur die grausige Überspitzung der Verhältnisse.

Es könnte ja sein, dass sich – was Gott verhüten möge – zukünftige Geiselnehmer dies eine Lehre sein lassen und Kamerateams nicht mehr an sich heranlassen. Das schadet auch der Presse nicht, die in solchen Fällen an vorderster Front ohnehin nichts verloren hat. Ein Medienspektakel wie Gladbeck wird es nicht mehr geben, wenn es heißt: Vorsicht, Kamera! Wenn das alles also für etwas gut gewesen sein sollte, dann wenigstens dafür.
MICHAEL ALTHEN

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