03. November 1992 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Festivals | Hof 1992

Weit weg von Deutschland - ganz nah

Amokläufe durch die Gegenwart: Bericht von den 26. Hofer Filmtagen

Es war einmal ein Reporter namens Willi Busch, der sich seine Schlagzeilen selber machte. Er fand Sensationen, wo keine waren, und erzählte Geschichten, wo die Geschichte nichts als Schweigen übrig gelassen hatte. Das war im Werratal an der Zonengrenze, wo die Wirklichkeit nur noch mit Fiktionen am Leben gehalten werden konnte.

13 Jahre sind seit Niklaus Schillings Willi-Busch-Report vergangen, und die Wirklichkeit hat die Fiktionen längst überholt. Dort, wo Schillings Erfindung an ihre Grenzen gestoßen war, ist mit der Öffnung der Grenze auf einmal Raum für eine Fortsetzung entstanden. Daß die Historie selbst neue Geschichten ermöglicht, ist eine faszinierende Voraussetzung für einen Film. Aber der Schweizer Regisseur kann den Platz, den ihm die Geschichte eingeräumt hat, so wenig nutzen wie seine Kamera das Kinoformat. Die Bilder grenzen den Blick ein, als ginge er durch eine Videokamera. Diese begrenzte Perspektive mag durchaus ihre Berechtigung in der gegenwärtigen Lage finden, aber der Erzählung ist sie in ihrer Konsequenz eher abträglich. Auch daß die Puzzle- Teile, die Schilling ausbreitet, kein ganzes Bild mehr ergeben können, ist noch nachvollziehbar, aber daß der Regisseur dabei keiner Figur mehr Luft zum Atmen läßt, ist auf Dauer nur noch ärgerlich. Er zieht sein Konzept um jeden Preis durch, auch um den der völligen Leblosigkeit. Der Film ist nicht mehr an Menschen interessiert, sondern nur noch an sich selbst.

Deutschfieber ist gleichwohl ein schöner Titel für die Ereignisse, und das deutsche Kino hat dieses Jahr in Hof auf seine Art versucht, darauf zu reagieren. Wo Schilling scheitert, geht Christoph Schlingensief wirklich weiter und bietet dem Wahnsinn Paroli. Terror 2000 – Intensivstation Deutschland malt in gewohnt drastischen Farben ein Panorama deutscher Gegenwart. Nachdem Schlingensief aus dem Dritten Reich eine Seifenoper und aus der Wiedervereinigung ein Kettensägenmassaker gemacht hat, verwandelt er die Asyldebatte vollends in einen Reigen der Ekelhaftigkeiten. Auf die Widerwärtigkeit der Vorkommnisse reagiert er mit Obszönitäten.

Sein Schlachtengemälde aus dem Städtchen Rassau, in dem die deutsche Geschichte geradezu lustvoll auf Wiederholung drängt, kennt keine Tabus. Gerade die Geschmacklosigkeit erscheint in diesem Zusammenhang als einzig mögliche Antwort auf Deutschland. Schlingensief läßt der deutschen Gegenwartsgeschichte nicht die geringsten Freiräume, in denen sie sich sammeln könnte. Nicht einmal das Geiseldrama von Gladbeck, wo sich das Volk in gemeinsamer Abscheu vereinen konnte, ist dem jungen Regisseur heilig. Aus dem Fluchtauto macht er stattdessen einen Brutkasten von Gewalt und Selbstekel, die im weiteren Verlauf zum Amoklauf nationaler Gefühle führen. Es gibt nichts zu verlieren. Darum setzt Schlingensief alles aufs Spiel. Das ist im deutschen Kino selten.

Ein ähnlicher Wahnsinn war sonst nur in dem belgischen Film C’est arrivé près de chez vous, der bei uns seltsamerweise Man Bites Dog heißt, am Werk. Die fiktive Dokumentation eines Serienkillers überschreitet gleichfalls alle Grenzen des guten Geschmacks, bis dem Zuschauer auch die letzte Möglichkeit der Gegenwehr genommen ist. Wo anderswo die Gewalt im Kino nie vor Ästhetisierung gefeit ist, werden hier so lange die brutalen Morde gezeigt, bis nur noch der nackte Schrecken übrig ist. Elend und Abscheu regieren und nichts sonst. Die drei jungen Belgier Belvaux, Bonzel und Poelvoorde gehen mit einer Kühnheit und Radikalität zu Werke, die ihresgleichen sucht.

Politik des Privaten

Verglichen damit wirkt Rosa von Praunheim, das enfant terrible des deutschen Films, geradezu zahm. Was im Falle seines neuen Films Ich bin meine eigene Frau ausgesprochen wohltuend wirkt. Seine verspielte Dokumentation über das Leben des Transvestiten Charlotte von Mahlsdorf legt eine zärtliche Neugier und einen schönen Ernst an den Tag, den man bei Jüngeren nur selten findet. Praunheim läßt den heute 64jährigen Mahlsdorf aus seinem Leben erzählen und stellt verschiedene Stationen mit Schauspielern nach.

Der Film ist vielleicht kein ästhetisches Wagnis, aber er hat im Gegensatz zu vielen anderen wirklich etwas zu erzählen und er taugt vor allem als Gegengeschichte. Diese Biographie unter den Repressionen der verschiedenen deutschen Gesellschaften ist im gleichen Maße politisch wie sie privat ist. Sie zeigt deutsche Geschichte aus der Perspektive von Minderheiten und ist insofern ein Mahnmal der Würde und Aufrichtigkeit.

Gerade die einfache Leichtigkeit des Films von Praunheim läßt manchen anderen Versuch, private Geschichten zu schildern, genauso verblassen wie manche Unterfangen, Geschichten politisch zu erzählen. Mag man die Auswahl in Hof als Befund nehmen, so hat sich die Situation des deutschsprachigen Kinos kaum gebessert. Auf jeden radikalen Film kommen nach wie vor zehn biedere, auf jede konzentrierte Geschichte zehn beliebige. Das Niemandsland der indifferenten Filme ist groß wie eh und je, und dort, wo der Versuch gelingt, Politik und Unterhaltung auf leichte, aber nicht leichtfertige Weise zu verbinden, da wird nach der Vorführung stolz verkündet, der Film werde im Dezember im Fernsehen ausgestrahlt.
So geschehen bei Ralf Huettners Der Papagei, in dem Harald Juhnke als eine Art deutscher Bob Roberts zur vielleicht besten Leistung seiner schauspielerischen Karriere geführt wird. Er spielt einen ehemaligen Schauspieler, der vom Straßenverkäufer zur Marionette einer rechtsradikalen Partei gemacht wird. Seine marktschreierischen Talente bringen der Partei enormen Zulauf, sein verlebter Charme tut ein übriges. Die Rolle ist Juhnke auf den Leib geschrieben, aber wie er die müde Eitelkeit und nagende Feigheit spielt, ist schon bewundernswert. Auch wenn Huettner mitunter Bilder findet wie jenes der rechten Marionette vor dem Hintergrund der Feldherrenhalle, bleibt sein Film dem Fernsehformat verhaftet. Er gibt auch nicht vor, etwas anderes zu wollen.

An den Hochschulen kann es nicht allein liegen, wenn der deutsche Film nicht über sich hinaus wächst. Der Isländerin Asdis Thoroddsen, die sechs Jahre lang an der DFFB studiert hat, ist mit Ingalo ein wunderschöner erster Spielfilm gelungen, der über das Porträt seiner rebellischen jungen Heldin ein packendes Bild der sozialen Zustände auf Island zeichnet. Die Fischerstochter, die sich nie mit ihrer Rolle abfinden will, kämpft mit faszinierendem Stolz für ein Leben, das sich dem Willen und den Erwartungen der rauhen Männerwelt verweigert.

So schonungslos und schön waren sonst nur wenige Filme. Neben El Patrullero, dem neuen Film des englischen Desperados Alex Cox, der mit einer Retrospektive geehrt wurde, war das vor allem Léolo von dem Kanadier Jean-Claude Lauzon. Auch dort konnte man sehen, daß Poesie und Ekel keine Gegensätze sein, daß Ernst und Witz einander nicht ausschließen müssen. Ein kleiner Junge, der in einem düsteren Hinterhof von der sizilianischen Sonne träumt, ein alter Mann, der die Geschichten von der Straße aufliest, und ein Panoptikum der unwahrscheinlichsten Typen treiben durch dieses Wunderwerk der Imagination. Dort wo bei Greenaway das Papier zu rascheln beginnt, wird Lauzons Film überhaupt erst lebendig, und dort wo Delicatessen schal schmeckte, wird Léolo zu einer kulinarischen Köstlichkeit. Da konnte man sich zuhause fühlen – weit weg von Deutschland.
MICHAEL ALTHEN

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


siebzehn + 6 =