30. Mai 1998 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Agnès Varda

Glücksschwindel

Agnès Varda wird siebzig

Es ist immer schön, wenn man zu solchen Geburtstagen nichts Endgültiges in Stein meißeln muß, weil der Jubilar noch immer für Überraschungen gut ist. So reicht vielleicht eine Äußerung von Agnès Varda, die schön vorführt, von welcher Beobachtungsgabe auch ihre Filme leben. Zur Entstehung ihres Films LE BONHEUR sagte sie: „Ich bin ausgegangen von winzigen Eindrücken, von fast nichts: Familienfotos. Im Detail sieht man eine Gruppe von Personen, alle um einen Tisch versammelt, unter einem Ast. Sie haben die Gläser erhoben und lächeln ins Objektiv. Wenn man das Foto sieht, sagt man sich: Das ist das Glück. Wenn man genauer hinsieht, wird man von einem Schwindel erfaßt: All diese Leute, unmöglich, daß sie alle im selben Moment glücklich waren.” Wenn man so will, handeln ihre Filme immer wieder von jenem Graben zwischen Schein und Wirklichkeit und von der schwindelerregenden Leere, die sich dabei mitunter auftut. Wie Cléo, die von 5 bis 7 auf das Ergebnis ihrer Krebsuntersuchung wartet und dabei Paris durchstreift. Dieser topographische Reiz hat alle Filme bestimmt: ihre Dokumentarfilme, ihre USA-Filme, den Hit VOGELFREI oder den Film über Jacques Demy, der schon im Titel die Herkunft verrät: JACQUOT DE NANTES. Einmal sieht man darin eine Aufnahme seiner Hand, durch die der Sand rieselt. Da ist alles drin: das Glück, daß es ihn gegeben hat; das Unglück, daß er nicht mehr lebt; und das Glück, daß Agnès Varda immer noch Filme macht.

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