09. März 1999 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Stanley Kubrick

Die unsägliche Lust des Schauens

Stanley Kubrick stirbt im Alter von 70 Jahren – vier Monate vor dem Start von EYES WIDE SHUT

Wer ins Kino geht, um glücklicher herauszukommen, als er hineingegangen ist, wird bei Kubrick nicht froh. Das Leben ist in seinen Filmen ein Schachbrett, und die Menschen sind nur Figuren. Manchmal hat man fast den Eindruck, hier spiele ein Freak die genialen Partien zweier Großmeister nach. Und daß sie stets mit einem Patt enden, ist als Ausblick in die Zukunft der Menschheit ein nicht unbedingt befriedigender Ausgang.

Man sieht schon, daß Kubrick kein Mann für halbe Sachen war. Stets ging es bei ihm um die großen Themen, die großen Ideen, das große Ganze. Das hat manchmal seine Filme gelähmt, vor allem aber ihn selbst. Wenn seine letzter Film „EYES WIDE SHUT ins Kino kommt, dann hat er in den 36 Jahren seit der Fertigstellung von DR. SELTSAM ganze sechs Filme gedreht: einer gewaltiger, ehrgeiziger und undurchdringlicher als der andere. Eine Mischung von Perfektionismus und Geheimniskrämerei umgab ihren Schöpfer, die in Pedanterie und Paranoia mündete und die niemand treffender dargestellt hat als Jack Nicholson: „Stanley versteht sich besonders gut auf den Ton – aber das tun eine Menge anderer Regisseure auch. Stanley hingegen ist auch gut, wenn es darum geht, einen neuen Galgen fürs Mikro zu entwerfen. Und er ist gut, was die Farbe des Mikros angeht; und er ist gut, was den Händler angeht, von dem er das Mikro gekauft hat; und er ist gut, was die Tochter des Händlers angeht, die eine Zahnkorrektur braucht. ”

Kubrick war mit anderen Worten ein control freak, der auch dort noch weitermachte, wo andere Regisseure ihre Filme längst der Kinomaschinerie überantworten. Für BARRY LYNDON reiste er um die Welt, um sich mit eigenen Augen ein Bild vom Zustand der Erstaufführungskinos zu machen. Er ließ die Projektoren überprüfen und die Tonanlagen vermessen, ehe er sein Okay gab. Das ist – angesichts des Zustandes der meisten Kinos, der jedem Aufwand bei der Fertigstellung der Filme Hohn spricht – ein zweifellos verdienstvolles Unterfangen, aber es zeigt auch einen Mann, dessen Ansprüchen die Welt – und wahrscheinlich auch sein eigenes Werk – niemals gerecht werden konnte. Wahrscheinlich hätte er seine Filme am liebsten überhaupt nie jemandem gezeigt, um auf ewig an ihnen weiterbasteln und -feilen zu können.

Man muß sich diese Detailwut vor Augen halten, um zu begreifen, worin die größte Schwäche von Kubricks Filmen lag – und worin ihre einmalige Größe. Dem Ehrgeiz, nicht eine einzige Einstellung durchgehen zu lassen, die normal oder gar gewöhnlich wirken könnte, wohnt etwas zutiefst Verzweifeltes, wenn nicht gar Unmenschliches inne, daß man versucht ist zu sagen, das sei das genaue Gegenteil von Kino. Dies ist eher der Traum eines Ausstatters, die Phantasie eines Architekten, die Obsession eines Mathematikers, daß nichts ihre präzise ausgezirkelten Kreise stören möge. Und darin ähnelt Kubricks Werk dem KONTRAKT DES ZEICHNERS, der das Leben aus seinen Bildern bannen möchte, weil es nur die sorgfältigen Arrangements durcheinanderbringt. So gesehen ist Peter Greenaway der einzige legitime Erbe Kubricks.

Andererseits handeln seine Filme ja genau davon: Wie die Zufälle des Lebens die schönsten Pläne durchkreuzt: Schon in Kubricks erstem von ihm selbst ernst genommenen Film THE KILLING (1956) muß Sterling Hayden, nachdem der Millionenraub geklappt hat, ohnmächtig zusehen, wie der Geldkoffer auf dem Weg zum Flugzeug vom Transporter fällt und die Scheine im Propellersog über das Flughafengelände wirbeln. Ein Hund hatte sich losgerissen und zwang den Fahrer zum abrupten Bremsen. Man sieht daran, daß Kubrick sich von Anfang für Geschichten interessierte, in denen das Leben allen Visionen von der Berechenbarkeit des Menschen einen Strich durch die Rechnung macht.

Ob es DR. SELTSAM ist, in dem eine Kette von Zufällen den Atomkrieg auslöst, oder BARRY LYNDON, in dem der eiskalt berechnende Emporkömmling am Ende über den Unfalltod seines Sohnes stolpert – immer geht es um jenen springenden Punkt, an dem die Dinge unvorhersehbar aus dem Ruder laufen. Der Computer in 2001, der eine Funktionsstörung hat; der Hausmeister in SHINING, der durchdreht; der Soldat in FULL METAL JACKET, der Amok läuft – alles im Grunde eine Reihe von Fehlschaltungen, mit denen nicht zu rechnen war. Wenn aber das Leben nur aus dummen Zufällen besteht – was sagt das dann über den Menschen aus?

Wo der Mensch bei Kubrick ins Spiel kommt, da ist das Unheil programmiert. Die Freiheit, von der wir träumen, gibt es in seinem Werk nicht – oder nur als fernes Echo von Sehnsüchten, deren Fluchtpunkt im Unendlichen liegt. In einer Welt, in der die Liebe stets auf verlorenem Posten steht, sieht Kubrick überall nur Gewalt am Werk. Jenen Sündenfall, der den Zugang zum Paradies für immer verschlossen hat, hat er an den Anfang von 2001 gestellt, wo die Menschenaffen beim Streit um Beute erstmals einen Knochen als Mordwerkzeug verwenden. Wie sich der Knochen danach flugs in ein Raumschiff verwandelt, zeigt, daß sich die Menschheit von diesem Schlag nie erholt hat. Und es gibt auch keinen Ausweg, weil das Ende immer ein Anfang ist. Wenn schließlich die greise Hauptfigur stirbt, mündet ihr Tod in eine planetare Fruchtblase, in der ein Embryo durchs All schwebt. Diesem ewigen Kreislauf, scheint Kubrick sagen zu wollen, werden wir nicht entkommen.

Was Kubrick sagen will, war stets Gegenstand von Spekulationen: Sind es kosmische Banalitäten oder hellsichtige Analysen unserer Gesellschaft? Es gibt darauf nicht wirklich eine Antwort, weil seine Filme geschlossene Systeme sind, die den Zuschauer immer tiefer in ihre ausweglosen Labyrinthe ziehen.

Es ist kein Zufall, daß SHINING in genau so einem eisigen Irrgarten endet, in dem sich der tobsüchtige Vater fängt und wo er erfriert. Wer in diesen Filmen so etwas wie eine Seele oder gar ein Herz sucht, wird auf nichts anderes stoßen: Zeichen, Muster und Formen, die immer nur auf sich selbst verweisen. Wenn man endlich einen Blick auf Jack Nicholsons Romanmanuskript werfen kann, an dem er in SHINING unablässig gearbeitet hat, dann steht dort auf hunderten von Seiten immer nur derselbe Satz: „All work and no play makes Jack a dull boy”. Ein echter Schlag in die Magengrube. Das ist so, als würde man das Herz eines Menschen öffnen und darin einen Maschinencode finden. Aber natürlich ist der Wunsch, auf irgendetwas anderes zu stoßen, so kindisch wie die Hoffnung der ersten Ärzte, bei der Obduktion die Seele zu finden. Was das angeht, hat Kubrick seine Antwort längst in 2001 gegeben: ein schwarzer Monolith steht da im Zentrum des Films, der alle Fragen des Zuschauers auf ihn selbst zurückwirft. Was sind wir doch für Kinder, die ernsthaft glauben, auf alle Fragen gäbe es eine Antwort. Wenn es aber keine Antworten gibt, dann muß es etwas anderes geben, was das Leben lebenswert macht. Vielleicht ist es ja die Musik, die der Liebe Nahrung ist…aber auch sie begleitet bei Kubrick immer nur Gewalt, Tod und Untergang: In 2001 tanzen die Raumschiffe Walzer; in „UHRWERK ORANGE begleitet Beethoven die Brutalität; in bARRY LYMNDON marschieren die Soldaten mit Pauken und Trompeten in den Tod; und in FULL METAL JACKET dient der Sprechgesang einem Drill, der den Soldaten jede Persönlichkeit austreiben soll.

Es gibt wenig Hoffnung in Kubricks Werk, und man möchte meinen, daß es vielleicht auch daran liegt, daß der gebürtige Amerikaner in der Abgeschiedenheit seines englischen Landsitzes auf die Welt wie auf eine Modell-Landschaft blickte, aus jener Distanz, mit der auch der Scharfschütze in FULL METAL JACKET den Gegner ins Visier nahm. Er hat sich dort vergraben, hat aus seinen Filmen und Büchern, die er dort hortete Muster und Regeln herausdestilliert, die er dann auf seine Filme und Figuren anwandte. So gesehen sind seine Filme der maßstabsgerechte Nachbau dessen, was wir Leben nennen – und haben mit dem Leben nur theoretisch etwas zu tun. Genau darin liegt aber vielleicht auch der Reiz: das Leben wie in einem gigantischen Museum zu betrachten, in dem nur die schönsten, ausgefallensten, irrwitzigsten Ansichten an den Wänden hängen. In gewisser Weise gleicht das dem Overlook Hotel in SHINING, hinter dessen ungeöffneten Zimmertüren sich all jene Filme zu verbergen scheinen, die Kubrick nie gemacht hat. Sie warten nur darauf, daß jemand endlich die Tür öffnet und sie ihren Auftritt haben: Aber wenn man ehrlich ist, kann man sich all diese Geisterfilme nur als Alpträume vorstellen.

Eine Türe wird sich noch öffnen. Stanley Kubrick hat offenbar im Wissen, daß er todkrank war, seinen letzten Film noch fertigstellen können. Letzten Dienstag, so heißt es, sei eine Kopie bei Time-Warner in New York eingetroffen, sei vom Vorstand besichtigt und für gut befunden worden, und sei dann wieder per Kurier nach London zurückgeschickt worden. Der Film soll etwas mehr als zwei Stunden lang sein – mehr weiß man nicht. Wie zum Hohn der branchenüblichen Aufgeregtheiten besteht die Website für den Film – welche sonst mit Trailern, Photos und allerlei anderem Krempel vollgestopft sind – aus einer einzigen weißen Seite, auf der in kleiner blasser Schrift nichts anderes steht als „eyes wide shut, 16 July 1999”.

Es handelt sich um die Verfilmung von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle”, in der Tom Cruise und Nicole Kidman Psychiater spielen, die eine Affäre mit ihren Patienten haben und eine erotische Reise ans Ende der Nacht antreten, wo sich – wie es Schnitzler genannt und Kubrick zeitlebens verwirklicht hat – „die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens” verwandelt.

Mit dieser Qual hat uns Stanley Kubrick allein gelassen. Er hat womöglich in seinem ganz eigenen Overlook Hotel eingecheckt, wo er nun in aller Ruhe eine Tür nach der anderen öffnen kann.

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