01. Oktober 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Herr Lehmann

Kreuzberg kann sehr alt sein

Der MTV-Moderator Christian Ulmen glänzt in Leander Haußmanns Verfilmung von Sven Regeners Roman HERR LEHMANN

Lange bevor das Wort Ostalgie Mode wurde und im Fernsehen einen faden Beigeschmack bekam, war Leander Haußmann im Kino mit SONNENALLEE erfolgreich. Vor allem im Westen waren alle aufrichtig überrascht, daß jenseits der Mauer der Alltag nicht nur grau gewesen sein soll. Denn es war auf einmal von Jugend und Träumen und Musik die Rede und nicht nur von jenen Stereotypen, mit denen man sich hierzulande die DDR vom Leib hielt. Haußmanns Film war eine erste Tauchfahrt in eine von der Springflut des Vergessens überspülte Vergangenheit.

Im Grunde ist auch das Kreuzberg, das nach seinem damaligen Postzustellbezirk mehr oder minder liebevoll SO 36 genannt wurde, ein untergegangenes Reich, eine Insel der Traumseligen, die schon das nahe Neukölln nur im Notfall durchquerten und das bürgerliche Charlottenburg für mindestens so feindliches Ausland hielten wie die DDR. Da saßen die Bundesrepublikflüchtlinge in ihren Kneipen, hofften, daß der Ausnahmezustand so lange wie möglich andauern möge – und wurden durch den Mauerfall bitter enttäuscht. Genau dort ist Herr Lehmann zu Hause und steht hinterm Tresen. Und daß die Kneipe „Einfall“ heißt, gehört zu jenen Ideen, auf die man damals womöglich noch stolz war.

Wenn man so will, dann ist HERR LEHMANN in jeder Hinsicht das Gegenstück zu SONNENALLEE. Seine Helden sind nicht mehr ganz jung, ihre Träume beschränken sich aufs nächste Bier, und was die Musik angeht, heißt es schon in der Romanvorlage von Sven Regener, sie „sagte ihm nichts, nach seiner Meinung war sie in Kneipen nur dazu gut, daß die Leute sich in Ruhe anschreien konnten.“ Das ist natürlich ein Witz, weil Regener im wirklichen Leben Sänger der Gruppe Element of Crime ist, und für Haußmann kein Hinderungsgrund, seinen Film nicht mit viel besserer Musik zu unterlegen, als es der Held im Zusammenhang mit so einer Äußerung eigentlich verdient hätte. So bekommt man Fad Gadget und Violent Femmes zu hören, die Eels, Ween und Calexico, die klarstellen, daß es nicht unbedingt auf historische Authentizität ankommt, sondern auf die Verlängerung eines Lebensgefühls in die Gegenwart hinein – Mauerfall hin oder her.

Konsequenterweise ist die Titelrolle völlig gegen den Strich besetzt. Christian Ulmen dürfte in seiner Eigenschaft als umtriebiger Moderator auf MTV wahrscheinlich das natürliche Feindbild eines Mannes wie Herrn Lehmann sein. Aber mit seiner ganzen Gewitztheit schafft er es, sich den Lehmann auf eine Weise anzueignen, daß man unter dem schon aus historischen Gründen schlechten Haarschnitt und den noch schlechter geschnittenen Klamotten eine ganz unzeitgemäße Präsenz spürt, daß man sozusagen die Coolness von heute mit der Lethargie von damals kurzschließt und die Penetranz von Ulmen mit der Renitenz von Lehmann zusammenfällt. In seiner ersten Hauptrolle überzeugt Ulmen also weniger durch seine Verwandlungsgabe als durch sein Talent zur Anverwandlung.

So weckt HERR LEHMANN Sympathien für Leute, die schon deswegen kaum zu Helden taugen, weil sie sich auf eine Weise in ihrer Bierseligkeit eingerichtet haben, daß ihnen gar nicht mehr auffällt, wenn sie tagaus, tagein dasselbe reden. Genau dafür hat Leander Haußmann ein Ohr. Wenn Lehmann und seine Saufkumpane nächtens von Kneipe zu Kneipe ziehen und sich in ihren kreisenden Gesprächen langsam hineinsteigern in die fixe Idee, ein unbeteiligter Kristallweizentrinker müsse ein Zivilbulle sein, dann spielt er die Szene mit einer solchen Unbeirrtheit aus, daß man sich dem absurden Witz der Situation kaum entziehen kann. Wie die Alten in der Muppet Show stehen sie am Tresen und finden erst mal alles suspekt, was nach Veränderung riecht. Diesen Konservativismus der sogenannten Lebenskünstler fängt der Film aufs schönste ein. Auch Lehmann hat es gern, wenn alles so bleibt, wie es ist. Schon deshalb gerät er mächtig ins Schwitzen, als ihm erstens auf dem morgendlichen Heimweg ein riesiger Köter den Weg versperrt, zweitens seine Mutter einen elterlichen Besuch ankündigt und er sich drittens mehr für die schöne neue Köchin in seinem Stammlokal zu interessieren beginnt, als er zugeben will. Zu allem Überfluß steht auch noch sein dreißigster Geburtstag vor der Tür – am 9. November 1989, der erst mal ein Datum wie jedes andere ist.

Als es dann soweit ist, die Eltern glücklich abgereist sind und die Freundin weniger glücklich sich ebenfalls wieder verabschiedet hat, beschließt Herr Lehmann, sich gepflegt zu betrinken. Da kommt jemand rein und sagt: „Die Mauer ist offen.“ Interessiert aber keinen. Erst mal noch ein Bier bestellen. Dann sagt der Wirt: „Hat vorhin schon mal jemand gesagt.“ In diesen Pausen liegt der Witz des Films – und womöglich die ganze Wahrheit über SO 36.

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