Die Jahresringe einer Stadt
Dominik Graf und Michael Althen drehen einen Film über München
Autor: Susan Vahabzadeh
Angeblich rauscht im Augenblick des Todes das ganze Leben an einem vorüber; was das für Bilder sein werden, ist im Voraus schwer zu sagen. Wahrscheinlich werden eine ganze Reihe seltsamer, alter Geschichten dabei sein. Welche werden das sein, welche Kleinigkeiten wird man behalten haben? Telefone sind heutzutage schwarze Dinger mit Tasten; wird sich das Gehirn, in dem Moment, wo es all die alten Geschichten abruft, die es nicht vergessen kann, daran erinnern, dass Telefone früher grün waren und Wählscheiben hatten?
Am Set von Dominik Grafs und Michael Althens Film München – Geheimnisse einer Stadt ist das jetzt gerade das Problem: Es wird eine Szene gedreht, in der eine Frau telefoniert, zur Haustür geht und erschossen wird. Die Geschichte ist wirklich einmal in München passiert – ein merkwürdiger Mordfall, der nie aufgeklärt wurde. Das alles ist natürlich nicht in diesem Haus in Harlaching geschehen. Hätte aber irgendwie auch hier stattfinden können. Der Raum, in dem die Schauspielerin jetzt wartet, hat damals, vor etwa zwanzig Jahren, vermutlich so ähnlich ausgesehen wie heute. Bis auf das Telefon. Da muss dringend ein anderes beschafft werden; es sind die Details, die sich am schnellsten verändern.
Die Geschichte von der Frau, die an der Haustür erschossen wurde, kommt im Film vor, weil sie zu jenen gehört, die Graf und Althen nicht vergessen können. Ihr Film München – Geheimnisse einer Stadt wird, im weitesten Sinne, ein Porträt der Stadt – aber eben nur im weitesten Sinne. Es geht mitnichten darum, Münchens Sehenswürdigkeiten abzufilmen und ins rechte Licht zu rücken: „Keine blauweiße Rautenfolklore”, sagt Althen. Graf und Althen üben sich eher im freien Assoziieren. Das Drehbuch, das die beiden verfaßt haben, beschreibt Graf als „ein Konzeptalbum über das Älterwerden in der Stadt”.
Beide sind in München geboren und aufgewachsen. Die Idee, einen Film über München zu drehen, hatten sie nach dem Erfolg ihres ersten gemeinsamen Projekts: Vor zwei Jahren haben Regisseur Graf (Die Sieger) und Michael Althen, sonst Filmredakteur der Süddeutschen Zeitung, zusammen Das Wispern im Berg der Dinge gedreht, eine Dokumentation über den Schauspieler Robert Graf – Dominik Grafs Vater. Anfang des Jahres wurden sie dafür mit einem GrimmePreis bedacht. Mit der gemeinsamen Regieführung haben die beiden keine Probleme; die Entscheidungen werden weitestgehend im Off gefällt. Die Arbeitsweise hat sich beim ersten Mal bewährt und soll auch diesmal ähnlich sein.
Drei Wochen lang haben die beiden in München gedreht, im November gehen die Dreharbeiten weiter. Knapp anderthalb Stunden soll das Ganze dauern, wenn es im nächsten Frühjahr fertig ist; und obwohl der Film eigentlich fürs Bayerische Fernsehen gedacht ist, soll es eine Filmkopie für Festivals geben.
München – Geheimnisse einer Stadt ist schon ein wenig teurer und aufwendiger, als das bei Dokumentarfilmen im allgemeinen der Fall ist; der Film wird mit einem „kleinen Fernsehspieletat” gedreht. Nun ist das kein Wunder, denn „Dokumentarfilm” ist nicht ganz das richtige Etikett für das Projekt. Es soll eher eine Art Collage werden, zusammengesetzt aus Erinnerungen und Träumen, Bildern und Zitaten, Archivmaterial und neu gedrehten Szenen. Auch formal wird eine Collage daraus werden – ein Materialmix aus Video- und Filmaufnahmen, schwarz-weiß und in Farbe. Es sei schon seltsam, sagt Graf, wie Szenen automatisch aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen, wenn sie auf Super 8 gedreht sind.
Die Stadt hat Altersringe wie ein Baum; die Spuren der Vergangenheit kann man überall noch finden. „In den sechziger und siebziger Jahren hatte München etwas Weltstädtisches, fast Visionäres”, sagt Dominik Graf. „Das hatte viel mit der Olympia-Architektur zu tun und damit, dass man in den Nachkriegsjahren eine moderne Stadt aufbauen wollte. ” Irgendwann ist dann doch wieder unsere kleine, behäbige Stadt daraus geworden. Vielleicht, meint er dann, gehe es auch gar nicht darum, wie es wirklich war, sondern nur um eine Vorstellung von München, die es einmal gegeben hat.
Die Geschichte Münchens soll der Film nicht referieren, er verfolgt keine geradlinige Handlung; er hangelt sich eher an einem fiktiven Lebenslauf entlang, an allen möglichen Geschichten, die jemand irgendwann erlebt oder gehört haben könnte; die von dem ungeklärten Mordfall an der Haustür beispielsweise, an die von Kindern, die im Lehel in die Bäche fielen, als sie noch offen waren, von der Hinrichtung der Geschwister Scholl und dem Busunglück von Trudering; Geschichten von verpassten Chancen und gescheiterten Beziehungen, von dem Weg, den ein Geldschein durch die Stadt nimmt, Erinnerungen an Lokale, die es nicht mehr gibt, und Freibäder, die längst geschlossen sind. Das Bild von München ergibt sich aus der Summe all dessen. Sie wollen versuchen, „die Stadt von innen nach außen wahrzunehmen”, sagt Graf. „Manchmal kommt man an einen Ort zurück, und er hat etwas Magisches – weil er vielleicht doch etwas mit einem selbst zu tun hatte, vielleicht vor zwanzig Jahren. ”
Wäre schön, wenn die Dinge reden könnten; die Straßen noch wüssten, wie es wirklich war in den zwanziger Jahren, die Mauern der Häuser berichten könnten, wer die Menschen waren, die dort einmal gelebt haben. Auf ihre eigene Art erzählen sie dann doch ihre Geschichten; jedem eine andere, jene eben, zu der die Bilder sich fügen in seinem eigenen Kopf.
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