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Michael-Althen-Preis 2022 - Der preisgekrönte Text

"Wie ich lernte, Barbie (nicht) zu lieben" von Samira El Ouassil

Erschienen erschienen beim Internetportal „Übermedien“ am 15. August 2023

In der berühmten Essay-Sammlung „Mythen des Alltags“ von Roland Barthes ist ein kurzer Text von wenigen Seiten zu finden, der überrascht, weil sich aus ihm eine leise Begeisterung oder gar Bewunderung des französischen Philosophen herauslesen lässt, und zwar für einen Rohstoff, der aufgrund seiner Vielgestaltigkeit durchaus faszinierend sein kann, aber für Mensch wie Natur nicht ganz unschädlich ist: Plastik.
„Plastik [ist] nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation; es ist, wie sein gewöhnlicher Name sagt, die sichtbar gemachte Allgegenwart. Übrigens ist es gerade deshalb ein wunderbarer Stoff: Ein Wunder ist immer eine plötzliche Transformation der Natur. Von diesem Staunen bleibt das Plastik durch und durch geprägt: Es ist weniger Objekt als Spur einer Bewegung. Und da diese Bewegung hier fast unendlich ist und die ursprünglichen Kristalle in eine Vielzahl immer erstaunlicherer Gegenstände verwandelt, ist Plastik im Grunde ein Schauspiel, das entziffert werden muß: das seiner Endprodukte.“
Als ich diese Zeilen erneut entdeckte, dachte ich sofort: Barthes hat damit bereits Greta Gerwigs „Barbie“ treffend beschrieben. Ein spezifisches Endprodukt wird auf der Bühne seiner eigenen Plastikwelt präsentiert und das Schauspiel einer Transformation dargeboten, das staunen lässt und zugleich genauer verstanden werden will.
Ich bin von „Barbie“ so fasziniert wie Barthes vom Plastik. Und das erzeugt bei mir eine kognitive Dissonanz. Denn natürlich ist dieser wunderschön inszenierte, toll gespielte, umwerfend ausgestattete Film auch eine zweistündige Werbung für eine fragwürdige, unter unmenschlichen Bedingungen hergestellte Ware, welche die Objektifizierung der Frau seit ihrem Bestehen popkulturell unterstützt hat.

Das Pink!
Eigentlich sollte man es in einem Text über Barbie tunlichst vermeiden, über die eigene Kindheit und das Verhältnis zu diesem Spielzeug zu sprechen. Es erscheint so naheliegend, zu sentimental wie unangenehm nostalgisch. Ich kann jedoch nicht erklären, was mir an diesem Film gefällt, ohne zu beschreiben, was ich an Barbie als Spielzeug schon als Kind hasste.
Mein Verhältnis zu dieser Puppe war schon immer kompliziert. Zum einen versprach Barbie als Identifikationsangebot eine Art jugendliche Selbstermächtigung („Du kannst alles werden, was du willst!“); zum anderen konfrontiert sie ihre Besitzerinnen mit ihrer stereotypischen westlichen Normschönheit („Du kannst alles werden, was du willst – wenn du entsprechend aussiehst und tolle Kleider trägst!“). Heute weiß ich natürlich, dass sie zudem ein umweltschädliches, turbokapitalistisches Konsummonster ist (das zu allem Überfluss auch noch auf einer Frauenkarikatur namens Lillie der „Bild“-Zeitung basiert).
Damals in meiner Kindheit spielte ich zunächst sehr gerne mit Barbies. Die Kleider! Das Frisieren! Das Pink!
Später kam ich in eine Phase, in der ich genau diese Dinge mehr als verachtete. Die Kleider. Das „Frisieren“. Dieses Pink.
Denn in meiner Pubertät versuchte ich andere, nicht minder liberale Konzepte von Weiblichkeit zu performen, wie beispielsweise das „Cool Girl“ oder das „Pick me Girl“.
Ich hatte in meinem Teenager-Dasein bereits begriffen, dass „weiblich“ allgemein als „schwach“ gilt. Und schwach wollte ich auf keinen Fall sein, damit hatte ich eher schlechte Erfahrungen gemacht.

Stupid Girls
Barbie war das perfekte neoliberale Produkt einer apolitischen Epoche, der Neunzigerjahre, und ihrer hedonistischen, kauforientierten Loveparade-Spaßgesellschaft, die dem Beat des Marktes folgte, in der Feminismus irgendwas mit Alice Schwarzer war und der Humor von Harald Schmidt als intellektuell galt. 1996 versuchten mich die Spice Girls mit Zeilen wie „So tell me what you want, what you really, really want“ und durch ihre GIRLPOWER! von den Fesseln des Patriarchats zu befreien. Die Vergewaltigung in der Ehe war bei Erscheinen ihres Songs „Wannabe“ in Deutschland noch legal.
Ein Jahrzehnt später, im Jahr 2006, erschien der Song „Stupid Girls“ von Pink. Würde man die Sängerin fragen, gegen wen sich der Song richtet, würde sie sicherlich nicht sagen, dass es darum geht, dass alle Mädchen dumm sind. Im Videoclip sieht man allerdings ein Mädchen, das im Fernsehen verschiedene Vorbilder eines seltsamen Frauseins betrachtet: ein It-Girl, Damen, die sich ihre Brüste vergrößern lassen oder Rugby spielen, eine Präsidentin.
Der Song schießt zwar nicht gegen junge Frauen, aber der Clip vermittelt eine andere Botschaft als die Lyrics: Frauen werden als Karikaturen und Klischees gezeichnet; als Personen, die glauben, bestimmte Dinge leisten zu müssen, die sich objektifizieren und operieren lassen, sich schminken und bräunen. Die Frauen im Fernsehen werden als weniger intelligente, eher dümmliche rosa Barbies mit der schillernden Oberflächlichkeit von Seifenblasen dargestellt, deren persönliche Verunstaltung und ästhetische Überoptimierung allein ihrer eigenen Eitelkeit geschuldet sind – und nicht etwa einer patriarchalen Gesellschaft, die den Wert einer Frau an ihrem Aussehen misst.
Ich lehnte zu dieser Zeit Pink – also die Farbe, nicht die Sängerin – ab (obwohl ich Pink – also die Farbe – eigentlich bis heute sehr mag). Ich wurde zu einer besseren Videospielerin als alle Männer in meinem Umfeld (weil ich Videospiele tatsächlich liebe) und machte gerne anzügliche Witze auf Kosten meines Frauseins, wie: „Ich spreche gut Deutsch – für eine Frau, hahaha!“ Ich gefiel mir in der Pose eines strategischen Understatements und kam mir dabei richtig clever vor.
Das war meine kleine Guerillataktik im Umgang mit Jungs und Männern, die ich nicht für besser, smarter oder fähiger hielt, aber von denen ich wahrnahm, dass sie mir schaden könnten, wenn ich mich nicht angemessen verhalte und nach bestimmten Regeln funktioniere. Die männliche Gunst erschien mir überlebensnotwendig. Zugleich hielt ich mein Verhalten für ein emanzipiertes Aufbegehren gegen archetypisch feminin codierte Schönheitsideale. Für mich war dies Ausdruck einer besonderen Stärke und eines vorteilhaften Durchsetzungsvermögens. Bloß kein Weibchen, kein „Stupid Girl“ wie im Pink-Song sein.
Mit dieser Haltung lief ich natürlich genau in die Falle einer internalisierten Misogynie und folgte dem leisen Klang eines patriarchalen Echos. Denn egal, ob ich mich selbst feminisierte und objektifizierte, um einem sexistischen Blick zu gefallen, oder eine archetypische Weiblichkeit demonstrativ konterkarierte, um ebenfalls einem sexistischen Blick zu gefallen, der alles Weibliche als schwach und nicht erstrebenswert wahrnimmt: Ich war so oder so nicht nur selbst unfrei, sondern ich verstärkte auch die Dynamiken, die alle Frauen unfrei sein lassen.

Permanente Selbstleugnung
Wenn Sie bis hierhin gelesen haben und jetzt denken: „Mein Güte, was schreibt die da, was für unnötige Gedankengänge!“ – dann sind sie vermutlich ein Mann. Die eigene Identität permanent den geschlechtlichen Kräfteverhältnissen anzupassen, läuft auf die Auflösung des eigenen Ichs hinaus. Männliche Macht besteht auch darin, dass sich Frauen permanent in einen Zustand der Selbstleugnung versetzen müssen, der sie glauben lässt, diese Sublimierung sei eine erstrebenswerte Selbstoptimierung und Ausdruck der eigenen Emanzipation.
Und auch wenn meine persönliche Coming-of-Age-Geschichte völlig irrelevant erscheinen mag – genau an diesem Punkt hat mich der Film tatsächlich abgeholt. Denn ich verspürte beim Schauen ehrlich und ernsthaft eine eigenartige Erkenntnis, ein befreiendes Platzen eines Knotens in meiner Brust, was mein eigenes Frausein angeht. Vor allem am Ende, wenn Barbie (Margot Robbie) zu einer echten Frau, zu einem Menschen wird. Hier schließt der Film mit einem Gedanken, den man als die Grundidee des feministischen Existentialismus nach Simone de Beauvoir bezeichnen könnte: Um wirklich frei zu sein, muss man sein Dasein als Objekt hinter sich lassen und sich selbst als handelnde Akteurin begreifen wie bejahen.
In ihrem Werk „Das andere Geschlecht“ betrachtet die französische Schriftstellerin, wie der Status einer Frau gesellschaftlich im Verhältnis zum Mann als Norm definiert wird, wodurch sie nie eine wahrhaftige Souveränität ihres Daseins erfahren kann. Das, was die Gesellschaft als „weiblich“ wahrnimmt, ist ein Konstrukt, Ergebnis der Sozialisierung, von Geschlechterrollen und Verhaltensweisen, die durch gesellschaftliche Normen, Erwartungen und Konditionierungen erlernt werden.
Wir alle werden planlos in diese Welt geworfen, aber wir existieren in dieser nicht als Objekte, sondern wir haben bestenfalls auch ein Verständnis für unsere eigene Existenz. Diese sollte uns einen Sinn geben, der uns dazu antreibt, ein echtes, authentisches Leben zu leben. Authentizität wiederum bedeutet, zu erkennen, wer wir sind, damit wir nach unseren Bedürfnissen handeln und herausfinden können, wer wir eigentlich sein wollen, ohne der Vorstellung anderer entsprechen zu müssen.

Mensch werden
Und so cheesy das klingen mag: Einem Produkt größtmöglicher Artifizialität und klischeehaftester Geschlechterrollenprägung, also einem buchstäblichen Objekt, dabei zusehen zu können, wie es so etwas wie Selbstbestimmung und Authentizität erlangt – das hat mich berührt.
Wenn am Ende des Films die Idee „Barbie“ mit einer Träne der Selbsterkenntnis zum Menschen Barbara wird, genau an dieser Stelle wurde ich zum Fan – nicht der Figur Barbie, sondern des Films.
„Ich möchte Teil der Menschen sein, die Sinn erschaffen, nicht das Ding, das erschaffen wird. Ich will selbst Ideen haben, nicht die Idee sein – macht das Sinn?“, fragt Barbie ihre Schöpferin Ruth Handler. (Im Original: „I wanna be part of the people that make meaning, not the thing that is made. I wanna do the imagining, I don’t wanna be the idea, does that make sense?“)
„Erlaubst du mir, Mensch zu werden?“, will sie von ihr wissen.
„Nein, du brauchst meine Erlaubnis nicht“, erwidert Handler.
Anders als Pinocchio muss sich Barbie ihr Menschsein nicht erst verdienen, sie wird es einfach, indem sie ruhig ein- und ausatmet. Am Ende stirbt die Idee einer stereotypischen Barbie, damit Barbara als eigenständige Frau leben kann.
Ihr Menschwerdung hat eine weitere Ebene: Es ist die Traurigkeit der schon immer menschlichen Mutter Gloria (America Ferrera), die die Identitätskrise von Barbie überhaupt in Gang setzt. In ihrer Melancholie über die Entfremdung von der eigenen, sich emanzipierenden Tochter und das Gefühl, ein monotones Leben mit einem langweiligen Job zu führen, entzaubert sie ihre eigene Barbie, also Margot Robbie im Barbie-Land: Sie nimmt ihr die Perfektion und stellt sie sich mit mit menschlichen Makeln und als vergänglich vor.

Male Gaze
Geschlechtliche Stereotypen zwingen Individuen eine Unauthentizität auf. Die Rollen verfestigen die Vorstellung von Männern als herrschende Akteure mit der daraus folgenden, falschen Legitimierung, Frauen kontrollieren zu dürfen. Dementsprechend führten sie in der Geschichte des Patriarchats ein Leben, in dem es dazu gehört, zum Objekt männlicher Subjekte degradiert zu werden.
Wenn Barbie und Ken (Ryan Gosling) zum ersten Mal in der „Realen Welt“, am Venice Beach in Los Angeles, ankommen und die echten Menschen auf die beiden perfekten Plastikkörper in Neon-Klamotten reagieren, meint Ken stolz: „Ich fühle mich bewundert, aber nicht angestarrt. Ohne Untertöne von Gewalt.“ Worauf Barbie erwidert: „Ich spüre definitiv Untertöne von Gewalt.“
Der „männliche Blick“, der male gaze, wie er von der Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey in ihrer Theorie über die „Visuelle Lust im narrativen Kino“ beschrieben wurde, entwertet Frauen zu passiven Lustobjekten, zu Bildern, die vor allem von einem heterosexuellen, männlichen Publikum angestarrt und angehimmelt werden sollen. Mulvey argumentiert, dass im Kino die Frauen und die Welt dominant aus dieser männlichen Perspektive und für sie dargestellt werden – durch Kameraführung, Handlung oder Charaktere, die voyeuristische und narzisstische Wünsche von Männern befriedigen und Frauen auf sexuelle Objekte reduzieren. Diese Objektifizierung reflektiere eine phallozentristische Ordnung und verstärke die Machtverhältnisse einer Gesellschaft, in der keine aktiven, unabhängigen weiblichen Wesen vorgesehen sind, schreibt Mulvey:
„In einer Welt, die von sexueller Ungleichheit bestimmt ist, wird die Lust am Schauen in aktiv/männlich und passiv/weiblich geteilt. Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird. In der Frauen zugeschriebenen exhibitionistischen Rolle werden sie gleichzeitig angesehen und zur Schau gestellt, ihre Erscheinung ist auf starke visuelle und erotische Ausstrahlung zugeschnitten, man könnte sagen, sie konnotieren ‚Angesehen-werden-Wollen‘.“
Die pinke Hyperrealität des Barbie-Lands, in der Barbie beständig am Strand von Kens angeschmachtet wird, ist so falsch wie die vermeintlich reale Realität von Venice Beach und Hollywood – es gibt kein richtiges Leben am falschen Beach.

Erfolg essen Botschaft auf
So ironisch und fraglich die profitorientierte Idee ist, ein kapitalistisches, popkulturelles Produkt mit mehr Selbstbewusstsein neu zu erzählen, so glaubhaft ist dramaturgisch der Wandel von einer bloßen passiven Oberfläche hin zu einem selbstbestimmten Menschen. Der grundlegende Konflikt ist, dass die geschlechtlichen Stereotypen die Plastizität des Menschseins auf industrielle Gießformen reduzieren, das Geschlecht also nach willkürlichen Regeln und historisch gewachsenen sozialen Protokollen zu performen hat, mithilfe von vorgeschriebenen Tätigkeiten und Accessoires, die den Blick auf das Selbst und die eigene Authentizität verhindern.
Gelingt „Barbie“ also ein feministischer Befreiungsschlag, der das System zumindest ein bisschen ins Wanken bringt? Anders gefragt: Wie kann man in einer kommerziellen, gewinnorientierten Kulturindustrie überhaupt einen Blockbuster produzieren, der so etwas wie feministisch und subversiv ist? Wie kann ein Film wie „Barbie“ maximal mainstreamkompatibel sein und zugleich eine glaubwürdige Botschaft vermitteln, die nicht von seinem immensen finanziellen Erfolg und der Marketingwirkung seiner Produkte aufgefressen wird?
Meiner Ansicht nach ist Greta Gerwig dieser ideologiekritische Spagat gelungen, indem ihre Subversion nicht radikal ist, sondern rein formal bleibt. Barbie wird von ihr nicht mit einer zerstörerischen Geste dekonstruiert, sondern am Ende wieder so zusammengesetzt, dass sie ein bisschen anders und irgendwie besser erscheint.

Es ist vielleicht genau so, wie von Roland Barthes in den „Mythen des Alltags“ im Falle des Plastiks beschrieben:
„Es ist die erste magische Materie, die sich damit begnügt, prosaisch zu sein; doch sie tut es gerade deshalb, weil diese Prosaik die triumphale Rechtfertigung ihrer Existenz ist: Zum ersten Mal zielt das Künstliche aufs Gewöhnliche, nicht auf das Seltene.“
Im Multiversum der Spielzeugmarken
Die Frage, auf die ich jedoch keine Antwort finde – und das vermutlich aufgrund dieser kognitiven Dissonanz und meinem Dasein zwischen leidenschaftlicher Cineastin („Die Ausstattung! Die Sets! Die Proust-Zitate!“) und kritischer Kommentatorin („Die Kens unterdrücken die Barbies und Barbie entschuldigt sich danach, excuse me?!“) – ist die nach den Bewertungsmaßstäben, mit denen man sich diesem Film nähern sollte: Handelt es sich hier nicht doch nur um Werbung, die gekonnt und mit der richtigen Regisseurin als Kino getarnt wurde?
Wenn ich den Film als einen zweistündigen Werbefilm betrachte, der mithilfe der Mittel des Spielzeugherstellers Mattel (also mit sehr viel Geld für sehr viel Marketing und für maximale Reichweite) und seiner Produkte eine gesellschaftskritische Aussage über unsere Gegenwart anbietet, die weltweit von Millionen von Menschen gesehen werden kann, dann muss ich sagen: „Barbie“ ist ein kapitalistisches Meisterwerk.
Betrachte ich ihn rein als Film der Regisseurin Greta Gerwig, die sich ihren fragwürdigen und antifeministischen Produzenten mit Augenzwinkern und mit einer selbstreflexiven Ironie nähert und deswegen keine ästhetische Radikalität wagen kann, die aus dieser Werbung einen reinen Film machen könnte, dann handelt es sich nur um eine behauptete Subversion. Und dann wendet Mattel eine Strategie an, die gemeinhin „Pick me Girls“ vorgeworfen wird: „Nein! WIR sind nicht wie andere Marken!“
Das Problem liegt jedoch nicht in der Umsetzung der Filmemacherin, sondern im Kapitalismus selbst: Ein wahrhaftig Barbie-kritischer Film, der nicht zur weiteren Ikonisierung der Puppe beiträgt, kann aufgrund von Markenrechten nur von und mit Mattel gemacht werden – oder eben nicht. Insofern demonstriert die Existenz dieses Films einen Missstand, den man vehement und deutlich kritisieren sollte. Und insofern ist der Humor der Drehbuchautoren Greta Gerwig und Noah Baumbach vielleicht auch eine geschickte Bewältigungsstrategie von Indie-Filmemachern, die all ihre künstlerische Freiheit nutzen, um letztlich doch eine Werbung zu machen, die sich zumindest ein bisschen als Film entlarven lässt.

Streambares Plastik
Viel schwieriger als die Tatsache, dass das problematische Spielzeug einen nicht besonders kritischen Film bekommen hat, ist sein immenser Erfolg. Dadurch wurden uns mutmaßlich die nächsten Jahre Blockbuster-Kino versaut. Eigentlich wäre es am Ende dieses Textes angebracht, den Film zur Auflösung der kognitiven Dissonanzen aus der Perspektive einer Frau zu kritisieren – aber als Cineastin muss ich noch etwas über seine kinematografische Reichweite klagen. Denn der epische Erfolg dieses Films wird zweifellos die Zukunft des Kinos bestimmen.
Disney hat es mit dem Marvel-Franchise vorgemacht. Jeder Film war zugleich ein Werbefilm für den nächsten – oder die nächste Serie, die wiederum Werbung für eine nächste Fortsetzung war. Auch Warner Bros. versuchte das mit der „Justice League“, allerdings weniger erfolgreich, wie „Shazam! Fury of the Gods“ und „The Flash“ zeigten. Ikonische Produktfilme, welche die Entstehungsgeschichte einer Ware beleuchten und somit auch als Branding funktionieren – wie jüngst die Filme über Tetris oder die Air-Jordan-Schuhe von Nike – können aufgrund ihrer erzählerischen Abgeschlossenheit nicht von der Kraft eines Franchise profitieren. Es wird vermutlich keine 15 Teile über das iPhone geben, nur weil so viele Modelle davon existieren.
Spielwarenhersteller hingegen reiben sich gerade die Hände. Mattel hat schon die nächsten zehn Spielzeugfilme angekündigt und kann dabei vom eigenen Universum einer ganzen toystoryhaften Spielzeugarmee profitieren. Daher werden in den nächsten Jahren viele weitere Multiplex-Werbefilme in Spielfilmlänge auf uns zukommen, schlicht weil es für die Studios ökonomisch die sinnvollste Entscheidung ist.
Schon aufgrund der medienübergreifenden Konzentration und Produktion ist die transmediale Verwertung von Inhalten profitabel. So ist Disney Produzent und Streaming-Anbieter, produziert aus Comics Kinofilme, daraus Serien für Disney+, daraus weitere Filme und Spin-off-Serien und aus seinen traditionellen Zeichentrickfilmen Live-Action-Adaptionen, aus allem Videospiele, Spielzeug und Freizeitparkattraktionen – aus denen wiederum Kinofilme werden können (siehe „Fluch der Karibik“, „Jungle Cruise“ oder „Geistervilla“).
Zugleich entwickeln sich auch unsere Endgeräte, Smartphones und Computer weiter, mit denen wir Filme und Serien schauen oder Games spielen. Die Inhalte werden den neuen medialen Konstellationen angepasst – und Spielzeugfilme scheinen für diese umfassende Verwertung wie geschaffen. Eine Marke wird zu einem leicht verpackbaren, neu umgestaltbaren und einfach teilbaren Vermögenswert, dessen Selbstbewerbung im Kino zugleich das beworbene Produkt ist. Spielzeug ist streambares Plastik.
Damit lässt sich vielleicht auch die gegenwärtige Begeisterung für das Erzählen in Multiversen erklären: Es ist aus ästhetischer Sicht postmodern konsequent, aber zudem äußerst lukrativ – zumindest meistens. Ob in „Doctor Strange“, „Spider-Man: Across the Spider-Verse“, „The Flash“, „Loki“ oder „Everything Everywhere All at Once“ (das diese Entwicklung bemerkenswert in Form einer Art Arthouse-Blockbuster auf den Punkt gebracht hat): Multiversales Erzählen geht Hand in Hand mit transmedialem Erzählen. Es bietet die Möglichkeit, die unendlichen Möglichkeiten aller erzählbaren Geschichten mit verschiedenen Versionen der Protagonistinnen und mit alternativen Handlungssträngen für alle denkbaren und diversen Demographien immer wieder aufs Neue – und mit bestenfalls noch mehr Umsatz – zu wiederholen.

Feministische Ambivalenz
Manche Kritiken verachten „Barbie“ als einen spielfilmlangen Werbespot, dessen mainstreamkompatibler Feminismus sich aus ökonomischen Gründen selbst nicht von den Zwängen und Reproduktionen befreien kann, die er zu kritisieren behauptet – weil er vermarktete Weiblichkeit als Girlboss-Feminismus verkauft. Andere Kritiken feiern den Film jetzt schon als Klassiker eines feministischen Kinos, weil die nun erfolgreichste Regisseurin der Filmgeschichte aus geschlechtsbezogenem Existenzialismus einen lustigen, unterhaltsamen Film erschaffen hat.
Letztlich ist „Barbie“ so oder so ein kommerzielles Produkt, das by designnicht feministisch sein kann, da sich Kapitalismus und Feminismus widersprechen. Eine cineastische Auseinandersetzung mit den Projektionen des Frauseins, welche diese Puppe synthetisiert, wird sich jedoch nie von diesem Produkt trennen können. Umso schöner ist es, dass sich letztlich zumindest die Heldin von ihrem Dasein als Objekt befreien kann.
Daher rührt auch ein Teil meiner kritischen Uneindeutigkeit, die mir eine große Ambiguitätstoleranz abverlangt: die Erkenntnis, dass Abhängigkeiten und daraus resultierende Spannungen zwischen Filmemacher:innen und Spielzeugherstellern wie Produzenten von Hollywood-Blockbustern Filme immer daran hindern werden, wahrhaftiger sein zu dürfen. Die Kommerzialisierung steht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zum thematischen Anspruch – das wird in „Barbie“ so schmerzhaft sichtbar. Und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ist „Barbie“ so faszinierend wie Plastik.
Und wenn man mich fragt, ob ich diesen Film mag oder eher vom fehlenden Feminismus enttäuscht bin, dann erscheint es mir nur konsequent, darauf dissonant zu antworten: Ich mag den Film zu sehr, um Barbie jemals lieben zu können.