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Michael-Althen-Preis 2022 - Der preisgekrönte Text

"So schön stirbt das Abendland" von Adam Soboczynski

Man sollte sich nicht täuschen: Michel Houellebecq ist ein reaktionärer Autor. Aber sein neuer Roman "Vernichten" ist trotzdem ein erschütterndes Meisterwerk.

Erschienen in Die Zeit am 13. Januar 2022

Man muss schon wissen, worauf man sich einlässt. Der gerade für seinen gut 600 Seiten langen Roman Vernichten so hymnisch gefeierte französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat sein ideologisches Programm nie verheimlicht, und er hat es auch – so viel sei gleich verraten – in sein neuestes Werk eingesenkt. Houellebecq ist kein Schalk, kein Spaßmacher, kein Spieler, er ist ein erstaunlich rechter Denker, changierend zwischen konservativer Melancholie und reaktionären Gewaltfantasien. Vor drei Jahren verherrlichte er Donald Trump („Er erscheint mir als einer der besten amerikanischen Präsidenten“). Ihm sagten dessen protektionistische Handelspolitik, Nationalismus und Hass auf die EU sehr zu. Und das war keine lustige Provokation, wie gleich gemutmaßt wurde. Der Essay fügte sich recht gut in sein Werk ein. Houellebecq hatte sich nur einmal die Mühe gemacht, die Weltanschauung, die in seinen Romanen transportiert wird, in einen politischen Kommentar zu überführen.

So gut wie alle seine Werke sind von einem dramatischen Antimodernismus beseelt: Die menschliche Vereinzelung ist durch die Zerschlagung familiärer Werte, herbeigeführt durch die Achtundsechziger, vollkommen. Der Sex ist unter den verschärften Wettbewerbsbedingungen zur Ware herabgewürdigt, die Hässlichen leiden am meisten. Die grassierende Kinderlosigkeit moderner Partnerschaften ist ein Unglück für die Nation – aber immerhin das demografische Einfallstor für einen moderaten Islam, der viele (wenn auch nicht die Juden und die emanzipierten Frauen) zu neuen, glücklicheren Untertanen machen könnte. Das jedenfalls war die zweifelhafte Pointe seines Romans Unterwerfung (2015).

Wer glaubt, die in Rezensionen auch diesmal sorgsam ausgesparte Gesinnung Houellebecqs werde hier überzeichnet, sei eingeladen, die kaum beachtete, aber aufschlussreiche Dankesrede zu lesen, die er zur Verleihung des Oswald-Spengler-Preises 2018 in Brüssel gehalten hat. Darin wird nicht nur der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour gepriesen, sondern mit Blick auf das Schicksal des Westens eine populationsgenetische Position eingenommen – weshalb es nur folgerichtig ist, dass die Rede in einem Prachtband des Manuscriptum-Verlags veröffentlicht wurde, der unter anderem die Bücher von Björn Höcke und Akif Pirinçci herausbringt.

Spätestens seit der Unterwerfung laboriert Houellebecq durchaus an konkreten und hoffnungsfrohen Möglichkeiten, das Unglück der Moderne wenn nicht zu heilen, so doch zu lindern. In Serotonin (2019) weist nicht mehr der so herrlich polygame Islam den Weg ins Himmelreich, das tun jetzt die Gewehrläufe wütender rechter, antikapitalistischer Bauern, die sich gegen die Globalisierung wehren. Houellebecqs neuester Roman Vernichten, gerade erschienen, zeigt nun eine dritte, eine überraschende Möglichkeit auf, die brutale Vereinzelung, seelische Verkrüppelung und Dekadenz dieser so lächerlichen und unheroischen Zeiten, in die wir aus seiner Sicht geraten sind, zu überwinden.

Vernichten ist ein völlig unerwartetes Meisterwerk, es überstrahlt die eher schlichten Thesenromane Serotonin und Unterwerfung. Es hat eine Wucht wie kein anderes seiner Werke, weil Houellebecq einer Schwäche erlegen ist: Keines seiner Bücher ist verletzlicher, offener, mitleidiger mit seinen Protagonisten, keines entfaltet ihr Seelenleben so anrührend, und dies geschieht im Wechselspiel der Figuren, nicht in der schmerzensmannhaften Solodepression wie sonst. Der Autor wählt diesmal nicht den leichten Weg der Coolness und der Distanz, er leuchtet den Schmerz eines, nein, letztlich jedes Lebens aus. Nach der Lektüre ist man erschüttert, so erschüttert, wie man nur von ganz großer Literatur sein kann.

Mit rätselhaften Videobotschaften im Netz beginnt das Buch

Vernichten handelt vom mittellangen Leben eines Spitzenbeamten im französischen Wirtschaftsministerium mit dem sprechenden Namen Paul Raison; von seiner Rolle im Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2027, der im Zeichen von unaufklärbaren Terroranschlägen steht; von seiner sehr liebenswürdigen Familie, die den rechtsextremen Rassemblement National wählt, und von seiner ziemlich fragilen, kinderlosen Ehe mit seiner Frau Prudence. Der Roman vereint Elemente des Thrillers, der futuristischen Gesellschaftsanalyse und des Familienromans.

Die Frauen opfern sich vollends auf für den kranken und leidenden Mann

Mit rätselhaften Videobotschaften im Netz beginnt das Buch. Offenbar gibt es eine Gruppe von satanisch inspirierten Ökofaschisten, der es mithilfe von technischem und digitalem Know-how gelingt, weltweit Anschläge auf Handelsschiffe und Samenbanken, auf Flüchtlingsboote und Internetpioniere durchzuführen, die sie umgehend posten. Nicht alle dieser Clips sind real: Auch der Wirtschaftsminister, für den Paul arbeitet und der sein engster Freund ist, der grundsympathische Bruno Juge, wird in einem Video gezeigt, und zwar als Opfer einer Hinrichtung, die nie stattgefunden hat, die aber trotzdem Eindruck macht.

Pauls alter Vater war vor seiner Pensionierung beim Geheimdienst angestellt, auch er untersuchte die aktuellen Anschläge, aber er kann nicht mehr sprechen. Paul erfährt, dass er einen Schlaganfall erlitten hat – und macht sich umgehend auf den Weg ins Beaujolais, das prachtvolle Weinanbaugebiet nördlich von Lyon, die Stätte seiner Kindheit, die Heimat seiner Schwester, ihres Mannes, seines Vaters und dessen Lebensgefährtin. Der Patriarch kann nur noch mit seinen Augen kommunizieren, die Lider schließen, um eine Zustimmung zu bekunden, manchmal leicht eine Hand drücken.

In der bürgerlichen Tradition ist der Mann gespalten in öffentlichem und privatem Handeln, in den Anforderungen des Amtes und den Anforderungen der Ehe. Die Frau nur vermag ganzheitlich zu handeln, sich vollends aufzuopfern für den Mann und die Kinder, was zu ihrem eigenen Seelenheil, ihrem inneren Frieden geschieht. Das nannte man Liebe, zu der die Männer nicht im gleichen Maße fähig sein sollten. Im Jahre 2027 haben die Frauen sich wieder mit Wonne ihrer ursprünglichen Bestimmung besonnen. Der Tochter und der Lebensgefährtin des Vaters macht offenkundig nichts, rein gar nichts größere Freude, nichts erfüllt sie mehr, als sich um den alten, bettlägrigen Herrn zu kümmern. Es ist ihr Glück im Unglück. Die Schwester Pauls ist von tiefem Glauben erfüllt, auch das ist ein Zug, den in Houellebecqs Roman nur Frauen haben. Ihr Mann ist ein alter Recke der identitären Bewegung und komplettiert mit seinem Aktivismus die eheliche Rollenverteilung, die so viel Liebe gebiert. Jedenfalls deutlich mehr als der Staat mit seinen Institutionen. Die finstere Beschreibung eines Altenheims, in dem der Patriarch kurzzeitig vor sich hin vegetiert, bevor er ins Reich der weiblichen Häuslichkeit überführt wird, ist ein Glanzstück im Roman. Die bösartigste Figur in diesem Buch der Liebe ist übrigens eine ehrgeizige Gesellschaftsjournalistin mit zur Schau gestelltem Antirassismus und Kosmopolitismus, typisch linksliberal, also maximal verlogen.

Dass die Republik in diesem Roman am Abgrund steht, ist ausgemachte Sache. Die Demokratie ist nur noch eine lachhafte Veranstaltung, träge und unzeitgemäß. Die Nation driftet ins Populistische, und der Präsident soll in Zukunft durch die Abschaffung des Amtes des Premierministers eine weitaus dominantere Rolle einnehmen, als er sie in Frankreich ohnehin schon hat. Vielleicht kann die autoritäre Wendung den Zerfall, die Atomisierung des Westens aufhalten, diesen sogar revitalisieren. Die Protagonisten glauben es selbst nicht recht. In jedem Fall ist der Status quo nicht schützenswert. Paul, der so melancholische, jenseitsversessene Held des Romans, räsoniert an einer prägnanten Stelle: „Sollten die Terroristen vorhaben, die Welt, wie er sie kannte, zu vernichten, die moderne Welt zu vernichten, dann könnte er ihnen das nicht einmal wirklich zum Vorwurf machen.“ Margaret Thatcher soll einmal gesagt haben: „There is no such thing as society“; Paul meint ganz in ihrem Sinne: „Familie und Ehe waren die beiden verbliebenen Pole, die das Leben der letzten Bewohner des Abendlands in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordneten.“ Der Rückzug in die Keimzelle des Vertrauten ist das Bollwerk gegen die umfassende Krise nicht nur des französischen Staates, sondern der gesamten westlichen Zivilisation.

Antimoderne Romantik als Epoche und Geistesströmung

Erst in dieser Zuspitzung wird die so selbstlose weibliche Aufopferung begreifbar, die Vernichten in seinem glühenden Kern zum großen Liebesroman macht. Mit der destruktiven Kraft eines Krebsgeschwürs bäumt sich der Westen im Terror und in der investigativen Terrorbekämpfung noch einmal auf – da erstrahlen die Zärtlichkeit und die Religion, als Refugien im Verfall, und das wäre die dritte und altersmilde Hoffnung, die Houellebecq neben einer islamischen und konterrevolutionären Perspektive entfaltet. Eine ungebrochene Liebesutopie klang in seinem Werk bislang nur selten an, am ehesten noch in seinem Roman Plattform (2001).

Dass er in Vernichten die antimoderne Romantik als Epoche und Geistesströmung einwebt, bis hin zum literarischen Doppelgängermotiv und zu Traumsequenzen, ist sehr stimmig. Sie wird im Roman als restaurative Kraft gedeutet: Romantiker folgten der gleichen Intention wie Widerstandskämpfer im NS-Staat. Linke Revolution und braune Schreckensherrschaft sind hier austauschbar, und erneut hat der Weltgeist uns in einen Zustand versetzt, in dem man nur noch auf eine Restauration hoffen kann. Derartige geschichtsdialektische Überlegungen durchziehen alle Romane Houellebecqs, der Wechsel vom realistischen Erzählen in die Pose des römischen Geschichtsschreibers hat einen hohen spekulativen und tragikomischen Reiz. So wie er überhaupt gerne die Grenze des Grotesken streift, auch in der Ausgestaltung seines leicht neurotischen Personals, ohne die Ernsthaftigkeit seines Anliegens zu unterlaufen.

Sex transzendiert das Dasein bis zuletzt in eine paradiesische Glücksexplosion

Es ist beeindruckend, wie es Houellebecq gelingt, ein so komplexes Handlungsgefüge unterhaltsam auszugestalten, die zahlreichen Verzweigungen des Werks zu komponieren und schließlich die so diversen Themen wie den bizarr-humorvoll dargestellten Wahlkampf (bei dem einige lebende Personen der französischen High Society auftreten), den digital bewirtschafteten Terror, die europäische Geistesgeschichte und eine aktuelle Sozialkritik souverän in ein großes Finale der Intimität münden zu lassen. Am Ende konzentriert sich alles auf die Liebe zwischen Paul und Prudence, die nicht nur den Weg zur Spiritualität und Religion gefunden hat, sondern auch zur rückhaltlosen Fixierung auf den Gatten, zum Kochen und zum Sex, der noch am Abgrund, bis zum letzten Atemzug das triste Dasein zur paradiesischen Glücksexplosion transzendiert. Paul „konnte zugleich ihr Sohn, ihr Vater und ihr Liebhaber sein, die damit verbundene Symbolik war ihr vollkommen gleichgültig, Hauptsache, er war da“.

Man muss die Absicht, die ideologische Stoßrichtung eines Romans nicht teilen, um ihn zu bewundern. Und es wäre albern und fantasielos, einen Roman, ein ästhetisches Werk ausschließlich nach Maßgabe seiner politischen Botschaft zu beurteilen, wie es neuerdings hier und da üblich geworden ist. Benennen sollte man hingegen schon, worauf man sich bei diesem Liebling des Feuilletons einlässt: Vernichten handelt von der Hingabe der Frauen an den hinfälligen Mann, den letzten barmherzigen Akt im Untergang des Abendlandes. Es ist ein furchtbares, es ist ein grandioses Werk.