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15. Mai 1985 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Joseph Cotten

Der Mann ohne Eigenschaften

Zu Joseph Cottens 80. Geburtstag

Vielleicht ist das Bezeichnendste, was je über Joseph Cotten gesagt wurde, ein Satz Alida Vallis aus DER DRITTE MANN: „Wenn Sie mich anrufen würden und mich fragten, wie Sie aussehen, oder ob Sie einen Schnurrbart tragen, ich wüßte es nicht.“ Diese Unauffälligkeit läßt angesichts seiner Erscheinung alle Adjektive versagen. Die Filmlexika beschreiben ihn als „großgewachsenen Darsteller ruhiger Rollen“, was zumindest Hitchcock bei IM SCHATTEN DES ZWEIFELS eindrucksvoll widerlegte: Der Film offenbart die Abgründe, die sich hinter Joseph Cottens unscheinbarem Gesicht auftun, ein Witwenmörder in der Maske des lieben Onkels. Dieses Potential nutzten dann auch unzählige Horror-Billigproduktionen in den sechziger und siebziger Jahren, als Cottens Abstieg begann.

Dem großen Publikum jedoch ist er besser bekannt als der ruhige, hoffnungslose Romantiker – ein Bild, das sich in den Vierzigern prägte, als er zweimal an der Seite Jennifer Jones‘ unter der Regle des zu Unrecht vergessenen William Dieterle spielte. Und vor allem anderen in der Rolle des verkrachten Schriftstellers Holly Martins, der im Wien der Nachkriegszeit nach seinem verschollenen Freund Harry Lime sucht. Und doch bleibt er auch hier in DER DRITTE MANN im Schatten anderer; wohl keiner käme auf die Idee, diesen oder einen der anderen Filme als „Film mit Joseph Cotten“ zu bezeichnen.

Am 15. Mai 1905 in Petersburg im US-Staat Virginia geboren, arbeitete Cotten erst einmal als Verkäufer und Theaterkritiker, ehe er über den Broadway zu Orson Welles‘ Mercury-Theater stieß. Das dürfte für ihn, der bereits als Jugendlicher eine Schauspielschule besuchte, der Glücksfall seiner Karriere gewesen sein: denn sein Einstieg ins Filmgeschäft erfolgte mit einem unbestrittenen Meisterwerk der Filmgeschichte: CITIZEN KANE, zu dem er auch beim Drehbuch mitarbeitete, gefolgt von einer Hauptrolle in „Der Glanz des Hauses Amberson”. Die Doppelfunktion als Drehbuchautor und Schauspieler erfüllte er später dann noch einmal in VON AGENTEN GEJAGT. Allein seine Zusammenarbeit mit dem Genie Welles sollte Joseph Cotten einen festen Platz in der Filmgeschichte sichern.

Obwohl er nicht nur mit Welles, Hitchcock und Dieterle arbeitete, sondern auch bei King Vidor und Robert Aldrich auftrat, ist er Ende der Fünfziger in Vergessenheit geraten – in Hollywood vergißt man eben schneller als anderswo. Erst jetzt kann man ihn hierzulande wieder in einem Meisterwerk sehen: in einer Nebenrolle als Reverend Sutton in Michael Ciminos HEAVEN’S GATE. Und er sieht noch aus wie immer, nur sein Haar ist weiß geworden. Er, der als junger Mann viel älter wirkte als er tatsachlich war, ist nun vom Alter überholt worden.

1944, Cotten gehörte damals zum Schauspielerstamm des Hollywood-Moguls David O. Selznick, stellte eine Umfrage fest, Joseph Cotten habe eine größere Anziehungskraft als Gregory Peck oder Laurence Olivier, sei bei den Frauen beliebter und stehe besonders bei den Film-Fans hoch im Kurs. Joseph Cotten soll, wenn er heute seinen 80. Geburtstag begeht, wissen, daß sich für uns daran nichts geändert hat.

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