So ganz und gar von dieser Welt
War sein Leben nicht wunderbar? James Stewart – der größte Filmschauspieler aller Zeiten ist gestorben
Wenn ein Engel Flügel bekommt, heißt es in einem Film von Frank Capra, dann hört man ein Glöckchen klingeln. Demnach müßte es den Kinogehern auf aller Welt in der Nacht zum Donnerstag mächtig in den Ohren geklungen haben. In dieser Nacht ist James Stewart gestorben.
Wenn es so etwas wie einen guten Geist gab, der über Hollywood wachte, dann war das James Stewart. Natürlich war er schon 89 Jahre alt, hörte nur noch, was er hören wollte, und hatte mit dem Geschäft längst nichts mehr am Hut. Aber solange er lebte, konnte man sich in der Illusion wiegen, irgendwie halte er das alles noch zusammen, was da an Träumen entstand. Irgendwie gehöre das alles noch einem Zeitalter, einer Epoche, einer Ära an, die von dieser Lebensspanne umfaßt wird. Es war, als würde in ganz weiter Ferne und großer Finsternis noch eine Flamme brennen, und wenn sie erlösche, dann wäre es endgültig vorbei mit diesem ersten Jahrhundert des Kinos.
Eine Frage des Glaubens
Nun ist es also vorbei. Der Mann ist tot, und das Kino, das er verkörperte, nun auch. Er war der Allerletzte der Großen des Kinos – und unter denen der Größte. Daß das weit über das hinausgeht, was der Schauspieler an Fähigkeiten besaß, liegt auf der Hand. Solche Größe bemißt sich nach der Entfernung vom Herzen. So nahe wie er lag kein anderer am Herzen der Leute. Der Regisseur John Cassavetes hat mal über die Zeit des großen Aufbruchs in Amerika gesagt: „Es war nicht Amerika, an das wir geglaubt haben – es waren die Filme Frank Capras. ” Und wenn das stimmt, dann kann man leicht noch weiter gehen: Es war James Stewart, der uns im Kino den Glauben an Amerika gab, ach was, an die Menschen überhaupt.
Er kam aus einer jener Städte, die in Its a Wonderful Life Bedford Falls hießen und in seinem eigenen Leben Vinegar Hill. Dort wurde er am 20. Mai 1908 als Sohn eines Eisenwarenhändlers geboren. Stewart ging später nach Princeton, machte einen Abschluß in Architektur, zog weiter nach New York, wohnte mit Henry Fonda zusammen und schloß sich einer Theatergruppe an. 1936 fing er bei der MGM an, und der Rest ist Geschichte. Wenn man beginnen wollte, auch nur die erwähnenswerten Filme seiner Karriere aufzuzählen, bekäme man leicht eine Spalte voll. Begnügen wir uns deshalb mit der Erinnerung an seine Stimme, die so lange auf den Vokalen herumkaute, daß die Sätze eingentlich längst schon zu Ende waren, als die letzte Silbe noch hinterherstolperte. In gewisser Weise sprach er so, wie er sich bewegte. Wie jemand, der nicht auf den Weg achtet, weil er mit dem Kopf in den Wolken ist. Ein einziges Gestakse und Gestolpere, das wie durch ein Wunder doch immer zum Ziel führte. Wie keinem anderen kann man ihm dabei zusehen, wie seine Erfahrungen in Erzählung übergehen; wie er mit Worten langsam nachzeichnet, was in seine Seele längst eingeschrieben ist: „Ich kannte mal einen Kerl, der . . .”
Stewart verkörperte einen Kerl, der sich den Begriffen wie Star und Identifikation entzog. Die Männer, die er spielte, waren so ganz und gar von dieser Welt, wurzelten so sehr in dem, was jeden bewegt, daß Stewart nie in seinem Ruhm versteinern konnte. Er blieb ein Jedermann. Während Bogart und Wayne sich auf Posen festlegten, während sich selbst für Gary Cooper oder Henry Fonda bestimmte Charakterisierungen finden ließen, da entzog sich Stewart allen Versuchen der Marmorisierung. Wenn man nur flüchtig hinsieht, dann könnte man allerdings den Eindruck bekommen, sein Haupt werde von einem kleinen Heiligenschein umkränzt. Aber bei genauerer Betrachtung seiner Karriere verflüchtigt sich diese Gloriole im Nu.
Ein Blick in den Abgrund
Wer das nicht glaubt, muß sich nur mal The Far Country von Anthony Mann ansehen, wo Stewart gleich zu Beginn sagt: „Ich halte meinen Kopf für niemanden hin. ” Seelenruhig sieht er fortan zu, wie die Schurken Unschuldige tyrannisieren. Oder The Naked Spur vom selben Regisseur, wo er erst einen Mann zu Tode hetzt und dann sogar noch dessen Leiche zu Geld machen möchte. Oder Two Rode Together von John Ford, wo er bei allem immer zuerst fragt: „Was springt für mich dabei raus?” Die Härte, die Selbstsucht, die Raserei dieser Figuren kommt jedesmal wieder als Schock, wenn man diese Filme sieht. Das vergißt man leicht, dabei sind diese Abgründe auch in anderen Rollen durchaus angelegt.
Es ist beinahe so, als ob alles Harte, Kantige, Steinige herausgefiltert würde, wenn man Stewarts Filme durch das Sieb der Erinnerung passiert. Immer wieder bleiben nur Tugendhaftigkeit, Einfalt und Blauäugigkeit übrig. Dabei lag hinter den kleinen Tics und liebenswerten Macken, hinter der Freundlichkeit und dem Optimismus schon in den frühen Filmen ein Zug von Starrsinn, von unbezähmbarer Eigenwilligkeit. Wenn andere Schauspieler Schizophrene spielen, kommen zumeist die düsteren, gewalttätigen Seiten zum Vorschein. Bei Stewart bestand die unsichtbare Kehrseite seines Wesens hingegen aus einem großen, kuscheligen weißen Hasen namens Harvey. Das klingt so nett und ist doch eigentlich eine Monstrosität.
Auch in seiner Karriere gibt es nach dem Krieg einen Bruch. Stewart hatte sich freiwillig an die Front gemeldet und kam als hochdekorierter Flieger zurück. Den Eifer, mit dem er vorher für seine Ideale gekämpft hatte, gab es danach immer noch – aber die Ideale waren verloren gegangen. Als wäre irgendetwas in ihm zerrissen. Bitterkeit tränkte nun den Optimismus, und Zynismus hatte die Utopien zersetzt. Er war fortan, wie es der Titel eines seiner Filme mit Hitchcock nennt, der Mann, der zuviel wußte. Sein Image bekam schärfere Kanten, auf den Träumen schien ein Alpdruck zu liegen, und auf der Seele waren Narben zurückgeblieben.
Man muß gar nicht unbedingt den fiebrigen Wahn und die eiskalte Berechnung seiner grandiosen Rollen bei Anthony Mann kennen, um die Veränderungen zu begreifen, die in Stewarts Rollen vor sich gegangen sind. Ein Blick auf die Typen, die er bei Hitchcock spielt, genügt schon. In Fenster zum Hof ist er ein Voyeur, der seine Nachbarn bespitzelt und aller möglichen Dinge verdächtigt. Und in Vertigo betätigt er sich als Nekrophiler, der eine Frau dazu zwingt, dem Bild seiner verstorbenen Geliebten zu entsprechen. Und trotzdem nannte ihn alle Welt Jimmy, als wäre er immer noch der nette Junge von nebenan.
Stewart selbst hat mal erzählt, wie bei Dreharbeiten in Kanada ein Mann zu ihm gekommen sei und gefragt habe: Bist du Stewart? Und dann hat der Mann erzählt, er habe mal einen Film mit ihm gesehen, an dessen Titel oder Inhalt er sich zwar nicht erinnern könne, aber Stewart habe darin ein Gedicht aufgesagt über Leuchtkäfer, und das sei klasse gewesen. Das sei das Großartige am Kino, sagt Stewart: „Wenn du gut bist und Gott dir hilft und du das Glück hast, eine Persönlichkeit zu besitzen, die rüberkommt, dann tust du nichts anderes, als den Leuten kleine, winzige Stückchen Zeit zu schenken – Zeit, die sie nie vergessen. ” Die vielen winzigen Stückchen Zeit mit ihm werden wir weißgott nie vergessen. Denn es sind diese Momente, in denen wir die Frage, die der Titel seines schönsten Films und im Grunde seine ganze Erscheinung stellt, zur Abwechslung mal vorbehaltlos bejahen können. Sie lautet: Ist das Leben nicht schön?
Stellen wir uns also eine Veranda vor, wo man unter heißer Sonne im Schatten sitzen kann, eine Veranda wie in John Fords Two Rode Together, wo James Stewart die Füße auf die Brüstung gelegt hat, dem Treiben im Ort zusieht und sein Bier trinkt, das ihm unaufgefordert gebracht wird. Wenn es ein Bild dafür gibt, wie es im Himmel sein müßte, dann dieses. Den Stuhl zurückgekippt, die Beine hochgelegt, den Hut über die Augen gezogen – und ab und zu ein kühles Bier. Auf dieser Veranda über der Welt wird James Stewart nun sitzen, sich ab und zu einen Schluck genehmigen und unserem Treiben zusehen. Das wäre schon ein ziemlicher Trost. Denn einen besseren Engel können wir uns nicht wünschen.
MICHAEL ALTHEN